Betroffenheit und (emanzipatorische) Politik

„Schlimmer noch, wir bestärken die Leute darin, die Vergangenheit – und ihre Lektionen – aus der Perspektive ihrer je eigenen leidvollen Erfahrung (beziehungsweise der ihrer Eltern und Großeltern) zu sehen. Heute setzt sich die „allgemeine“ Interpretation der jüngsten Geschichte also zusammen aus Fragmenten unterschiedlicher Vergangenheiten (von Juden, Polen, Serben, Armeniern, Deutschen, Afroamerikanern, Palästinensern, Iren, Homosexuellen uws.), die allesamt von Leid und Opfer geprägt sind. Das Mosaik, das sich daraus ergibt, verbindet uns nicht mit einer gemeinsamen Vergangenheit, sondern trennt uns voneinander.“ Tony Judt, Das vergessene 20. Jahrhundert. Die Rückkehr der Intellektuellen, Frankfurt 2011, S. 14.

In emanzipatorischen Kreisen geht es in der Sache oft erstmal um die (praktische) Emanzipation marginalisierter – immer meist nicht-männlicher, nicht-weißer, nicht-europäischer, nicht-cis, nicht-heterosexueller – Gruppen, deren Position mit handfesten ideellen und materiellen Nachteilen im Alltag verbunden ist. Marginalisierung und die alltägliche Ungerechtigkeit bedingen einander, aber das ist ein anderer Blogpost. Der Kampf gegen diese Ungerechtigkeiten bedeutet neben der konkreten Veränderung der Situation auch oft eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit und Kritik an der Gesellschaft. Zu diesen Mechanismen gibt es ganze Bibliotheken mit Literatur und diese kurze Ausführung soll hier nur einen Rahmen vorgeben. Auch möchte ich im Folgenden die Trennung zwischen Theorie und Praxis einmal stärker betonen und anmerken, dass dies in vielen Diskussionen um emanzipatorische Bewegungen zu sehr vernachlässigt wird. Nun jedoch zum eigentlichen Thema: Betroffenheit und emanzipatorische Politik. Ich will dazu erst ein paar theoretische Überlegungen ausführen und dann ein praktisches Beispiel anhand meiner Erfahrungen rund ums #refugeecamp geben.

Betroffenheit ist ein wichtiger praktischer Erfahrungswert, welcher die Wahrnehmung und Beruteilung der Welt formt. Betroffenheit ergibt sich aus meiner Position in der Gesellschaft: Wie nehmen mich andere wahr? In welchen Schubladen stecke ich und wie sehen die aus? Das Bilden von Schubladen dient in erster Linie der Komplexitätsreduktion – je mehr Schubladen ich habe, in die ich Menschen schnell (anhand äußerlicher Merkmale ist zB sehr schnell) einordnen kann, desto intuitiver komme ich durchs Leben. Die Ambivalenz der Schubladen stellt uns vor das Problem, wie mit den Schubladen umgegangen werden soll, die schädlich sind, die Menschen das Leben zur Hölle machen. Analysiert sind diese Schubladen und wie sie entstehen schon ziemlich gut, tatsächlich gibt es kaum noch Bedarf die Theorie ob des Entstehens von Schubladen zu erarbeiten. Da wurde im 20. Jahrhundert ganze Arbeit geleistet. Die Frage, die bleibt: Wie gehen wir in der Praxis mit Schubladen um, in denen Menschen handfeste Nachteile auf Grund unveränderbarer Merkmale haben? Und wie reden wir darüber?

Selbst in der Schublade zu stecken bedeutet dabei ersteinmal zu wissen, wie die Schublade von innen aussieht. Eine Perspektive, die nur bei denjenigen vorhanden ist, die sich auch in der Schublade befinden. Um mit den Schubladen kritisch umgehen zu können, ist das ein Wissen, was *unverzichtbar* ist. Gleichzeitig bedeutet Betroffenheit nicht die bisherigen Theorien verstanden zu haben, ja es ist nicht mal notwendig sich mit diesen beschäftigt zu haben. Im Gegenteil sind persönliche Erfahrungen und daraus abgeleitetes Wissen oft diametral zu vielen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen, die erstmal kontraintuitiv sind. Identität bedeutet nicht automatisch theoretisches Wissen zu einem Wissenschaftsfeld, Identität kann diesen Anspruch aber auch nicht haben – das wäre essentialistisch, etwas, was eine kritische Auseinandersetzung mit Schubladen verhindern und das Ganze ad absurdum drehen würde. Jedoch, während die Betroffenensicht im Diskurs wesentlich ist, kann auf gelernte Theorie von nicht-Betroffenen durchaus verzichtet werden. Sollte es aber nicht.

Theorie ist natürlich nie frei von (nicht-)Betroffenheit – der Anspruch sollte aber sein, dass theoretische Debatten es sind. Nur weil es keine objektive Wahrheit gibt und wir uns in einer subjektivistischen Welt voller vieler individueller Wahrheiten befinden, sollte der Versuch eine gemeinsame wahrhaftige Realität zu schaffen niemals aufgegeben werden. Denn Politik ist das Aushandeln maximal allgemeingültiger Regeln, das Finden eines gesellschaftlichen Konsens, der für maximal viele alle Menschen ein Leben ermöglicht, das die Existenz sichert und gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht. Eigentlich ist das so trivial, dass es nicht weiter besprechen werden müsste, jedoch, so erscheint es mir, stehen in derzeitigen politischen Prozessen nicht ein fairer Ausgleich zwischen den Partikularinteressen im Vordergrund, sondern der Versuch die bestehenden Verhältnisse an der eigenen Betroffenheit zu orientieren. Die Frage ist somit de facto nicht, inwiefern wir maximal vielen allen Lebewesen auf der Welt ein würdiges Leben ermöglichen können, sondern wie ich als Vertreter_in einer Betroffenengruppe deren und somit meine Ziele durchsetzen kann. Die Frage ist nicht, wie wir wissenschaftliche Ergebnisse sinnvoll nutzen können, um Ressourcen effizient zu nutzen, sondern wie meine Betroffenengruppe die meisten Ressourcen zur Verfügung gestellt bekommt. Das ist erstmal Lobbyismus und in einem demokratischen System auch legitim, ja notwendig, jedoch fehlt das Bewusstsein, dass es sich auch immer um das große Ganze handeln muss. Im Strudel der Betroffenheit werden rationale Herangehensweise geopfert – die mächtigste Gruppe kann die eigene Betroffenheit zur Norm erheben und tut das auch, wie wir es anhand der CDU schön betrachten können. Doch genau diese Norm ist die Gebrauchsanweisung für die Hierarchisierung von Schubladen. Die Norm ist dabei theoretisch flexibel, auch wenn sie in unseren Beitengraden patriarchal ist. Was nun also bleibt ist auch hier eine Trennung von theoretischem Wissen über die Beschaffenheit von Gesellschaft, was in sich unabhängig von der eigenen identität ist und praktischer Erfahrung als Teil der Gesellschaft inklusive der wirkmächtigen Position. Identität bedeutet also nicht automatisch theoretisches Wissen und theoretisches Wissen bedeutet nicht automatisch Identität.

Praktisch gesehen ist das Ganze nun wesentlich komplizierter, denn praktisch gesehen ist Identität und Theorie tatsächlich kaum trennbar. Ein erhellendes Erlebnis hatte ich um das #refugeecamp herum. Ich traf einen Teil der Refugees das erste Mal in Würzburg, wo wir ihnen das Geld aus der #hosengate-Aktion überreichten. Ich verhielt mich von Beginn an sehr zurückhaltend und wollte nicht aufdringlich sein – ich empfand es als problematisch mich im Leben dieser Menschen irgendwie sichtbar zu machen, gerade weil ich weiß, in welchen Schubladen sie stecken und wieviel Mut und Kraft sie aufbringen aus diesen herauszukommen. Ich wollte sie nichtmal nach ihren Geschichten fragen. Ich empfand es vielmehr als unangebracht überhaupt Teil dieser ganzen Sache zu sein, mich ihnen aufzudrängen, ihnen helfen zu wollen. Ich empfand es schon im Sommer in Würzburg als hochproblematisch mich irgendwie in diesem Kosmos angemessen an mein theoretisches Wissen zu positionieren – ich war passiv-gelähmt.

Nun kamen die Refugees nach Berlin und suchten Aufmerksamkeit für ihre Anliegen zu finden. Im Rahmen dessen beteiligte ich mich an der #tits4humanrights-Aktion, die im Kern sehr gut funktionierte. (Twitter flippte aus und im Laufe der Woche wurde ernsthaft über die Thematik der Asylpolitik gesprochen.) Im Vorfeld hatten die Refugees im Plenum für die Aktion gestimmt und unseren aufmerksamkeitsökonomischen Vorschlag als Unterstützung für ihre Sache angenommen. Im Nachinein nun kamen einige Aktivistinnen zu uns und kritisierten die Aktion. Und obwohl ich die Kritik erwartet hatte und auch verstehen kann (letztlich ist die Kritik ja offensichtlich und das Ganze eine Frage der Abwägung, was nun sinnvoller ist), empfand ich es als Unverschämtheit, dass es da tatsächlich hieß, dass das Plenum der Refugees ja nicht entscheidungsfähig gehandelt hätte, als die Aktion beschlossen wurde.

Plötzlich war ich einer neuen Welle von Betroffenheit ausgesetzt, die auf der Länge des Aktivismus und der Nähe zu den Refugees basiert, letztlich jedoch nur Bevormundung bedeutet und fehlenden Respekt gegenüber denen, die dort tagelag im Hungerstreik saßen und mehr Mut und Kraft zeigten, als ich mir selbst vorstellen konnte. Im Anschluss an die Aktion war ich erstmal krank und saß vor Twitter, verfolgte jeden Schritt und versuchte den digitalen Faschos keinen Fußbreit zu zeigen. Und während ich als Virenschleuder vom Refugeecamp gebannt war, dachte ich wieder über Betroffenheit nach und meine Rolle. Was kann ich denn nun tun? Und mache ich es nicht automatisch falsch? Wie kann ich meine gesellschaftliche Position, mein fehlendes Wissen über Flucht und Vertreibung, das fehlende Leid ausblenden? Wie kann ich auf Augenhöhe mit diesen Menschen überhaupt sprechen?

Die wesentliche Zwickmühle dabei ist, dass die Betroffenen ihre Marginalisierung nicht ohne die nicht-Betroffenen (und nur schwer mit nicht-Betroffenen) überwinden können. Dass das Refugeecamp die Schikanen der Polizeit überlebte, lag vor allem an den tapferen nicht-Betroffenen (besonders auch Parlamentariern), die das Camp schützten, die keine Virenschleudern oder gelähmt-feige Überanalysierer waren. Ohne diese Menschen wäre viel von dem Protest wieder verloren gegangen. Ohne die Solidarität wäre der Protest verhallt. Und dennoch schämte ich mich wieder zum Refugeecamp zu gehen, mich potentiell in die Kleinkriege der Aktivist_innen zu begeben, die ihre fehlende Betroffenheit irgendwie zu kompensieren suchen, den Kampf der Betroffenen durch meine Identität potentiell zu überschatten, sie zu bevordmunden durch meine Art zu reden, kurz: durch meine gesellschaftliche Position ihre noch stärker zu schwächen. Dennoch weiß ich, dass es keine Veränderung geben kann ohne das die nicht-Betroffenen sich dem Kampf anschließen. Und wie lassen sich die nicht-Betroffenen für eine Kampf, der sie „eigentlich und irgendwie nichts angeht“, obwohl er doch so wichtig für die ganze Gesellschaft ist, gewinnen? Durch Theorie, durch Schreiben, durch Kommunikation und Dialog, durch das stetige Erarbeiten fairer Umgangsregeln, duch einen gesellschaftlichen Dialog, der nicht auf der Betroffenheit einzelner, sondern dem Ziel einer gerechten Gesellschaft fußt.

Politischs Handeln muss mehr sein als Betroffenheit. Politisches Handeln muss mehr sein als nicht-Betroffene, die sich abseits der Realität Theorien zusammenbasteln, die sie anschließend als universell verkaufen. Politisches Handeln muss mehr sein als das Verteidigen der eigenen Privilegien. Politisches Handeln muss mehr sein als anderen die Privilegien vorhalten. Politisches Handeln muss mehr sein als das Ausspielen der Theorie gegen die Praxis. Politisches Handeln muss sich einer gerechten Gesellschaft verpflichten.

Dieser Text entstand Ende 2012 und wurde leicht bearbeitet Ende 2015.