Nazis und Poststrukturalismus

Zu Beginn noch einen kleinen Einschub: Hört bitte auf, totalitär oder extrem als politische Kampfbegriffe zu nutzen – diese Begriffe sind nicht operationalisierbar für eine fundierte Analyse der Wirklichkeit und dienen ausschließlich dem politischen Kampf. Und hier liegt auch ein Kern des Fehlglaubens: Extremisten werden als Nazis empfunden, obwohl sie mit der eigentlichen Vorstellung der Nazis nichts zu tun haben. (Wir wären auch Extremisten, falls wir die Freiheit des Netzes forderten, das aber nicht die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung wäre, denn Extremismus ist eine Meinung an den Rändern einer vermeintlichen Mitte) Was die eigentlich problematischen Ansichten sind und wieso “Nazi-tum” weit früher anfängt als die meisten es sehen wollen und wieso wir deswegen tatsächlich ein “Nazi-Problem” haben, ist der Kern des Blogposts. Und nein, das wird kein theatralisches “Kein Platz für Nazis” – Statement, denn wenn ich sehe, wer am einen Tag Scheiße labert und am nächsten Tag solche theatralischen Statements retweetet, etc. – ja, da bleibt mir nichts übrig, als Ignoranz, Uninformiertheit oder Heuchelei zu attestieren. Ich will dem Problem an die Wurzel – ganz radikal also.

Es gibt wenig Begriffe, die so inflationär und willkürlich genutzt werden, wie „Nazi“ (ich werde den Begriff in Anführungsstriche schreiben. Ich hoffe, dass am Ende des Blogposts klar wird, wieso). „Nazis“ sind ein Synonym für „böse“ für unfassbar „böse“, maximal „böse“. „Nazi“ ist der Superlativ des Bösen. Doch was heißt eigentlich „Nazi“? Ich habe relativ lange gebraucht, bis ich begriffen habe, was die einzelnen Wörter in der ausgeschriebenen Version bedeuten: Nationalsozialisten. Es ist auch gar nicht verkehrt, das Sozialistische bei den Nationalsozialisten zu betrachten, denn es ist ein Zugang zu der Zielsetzung und ein Schlüssel zum Entziffern der Ursachen für den Wahnsinn, der unter dem Begriff Holocaust oder auch Shoa in die Geschichte eingegangen ist. Ich zitiere mich einfach mal selbst: „Die nationalsozialistische Herrschaft fußte auf der Idee, einen sozialistisch aufgebauten Volkskörper mit national orientierten (im Falle der Kulturnation Deutschland rassistisch-völkischen, siehe meinen Brief an den guten Thilo Sarrazin) Beteiligungsgrenzen zu schaffen. Diesem Volkskörper, bestehend auf der vermeintlich besseren Rasse, sollte in letzter Instanz die Welt und ihre Rohstoffe zur Verfügung stehen. Die Welt als Sklave des deutschen Volkes.” Hier und hier habe ich über Nationalstaaten geschrieben, falls ihr euch mehr damit auseinandersetzen wollt. Die Literaturliste ist jeweils recht umfangreich und ich denke, dass es da gute Anhaltspunkte zum Lesen gibt.

Denken wir an Nazis in der Nacht, denken wir an Schlägertrupps, Glatzen und Morde an „ausländisch aussehenden“ Menschen, also diejenigen, die von diesen „Neonazis“ als „Ausländer“ definiert werden. Wir denken vielleicht noch an KZ-Wächter und Heinrich Himmler als Archetypen der Nazis. Oder an Dr. Schneider in Indiana Jones (was z.B. ein Element des Problems ist). So oder so ist es abstrakt, weit weg, irgendwie „böse“ und „anders“ – die Rolle unserer Großeltern ist nebensächlich, nicht gegenwärtig, nicht direkt mit „Nazis“ verbunden. Und genau da liegt der Irrglaube – jeder von uns ist in einer Gesellschaft aufgewachsen, die auf einem Diskurs basiert, in deren Bezugsrahmen das Verbrechen Holocaust begangen werden konnte. Ja, ich weiß Diskurstheorie ist anstrengend, aber ich empfinde es zum Teil als tief anti-intellektuell, wenn eine Partei sich dem wissenschaftlichen Stand der Geisteswissenschaften verweigert. Schön dazu der Podcast CRE zum Thema Poststrukturalismus. Bitte hören – es ist hochgradig frustrierend, wenn sich immer wieder Piraten zu Themen absolut uninformiert äußern, die mit poststrukturalistischen Instrumenten analysiert werden können. RTFM und so. Und wenn ihr es nicht versteht, dann …. Kresse oder Fragen. Sorry, aber das muss auch gesagt werden.

Der Diskurs nun, der den Holocaust ermöglichte und uns auch geprägt hat, besteht aus verschiedenen Elementen, die bis heute eine Rolle spielen, die auch in der Piratenpartei virulent sind und vor allem in der Gesellschaft: Die Zustimmung zu Sarrazin ist dafür ein schönes Beispiel. Folgende Vorstellungen sind Teil dieses Diskurses.

  • Dass es eine natürliche Ordnung gibt, die Menschen befolgen sollten (Hierarchien, etc.)
  • Dass es ein deutsches Volk gibt, was eine Art Einheit darstellt/darstellen soll, welche auf der Sprache und der Kultur basiert (Angeschlossen daran: die Nation retten, erneuern, wiederbeleben; deutsches Volk als unterdrücktes Volk, das sich befreien muss, etc.)
  • Dass es menschliche Rassen gibt und dass Menschen aufgrund ihrer „Rassenzugehörigkeit“ gewisse Eigenschaften haben und dass es „überlegene Rassen“ gibt
  • Dass es Menschen gibt, die überflüssig sind, z.B. Arbeitslose
  • Dass es „gesunde“ und „ungesunde“ Menschen gibt, die, im Sinne der „Volksgesundheit“ eine gewisse Behandlung erfordern (Fettleibigkeit und psychische Abweichungen vom Normalzustand zB)
  • Dass es einen richtigen Lebensentwurf gibt, an den sich Menschen anzupassen haben
  • Dass Homosexuelle „krank“, „komisch“, „unnatürlich“, etc. sind
  • Dass Intelligenz genetisch bedingt ist und über den Status in der Gesellschaft entscheiden soll
  • Dass Frauen und Männer binär zu trennen sind, gewisse Eigenschaften aufgrund ihres biologischen Geschlechts haben und diese Eigenschaften ihnen einen definierten Platz in der Gesellschaft geben
  • Metapunkt: Gewalt als legitime Form der Durchsetzung dieser Haltungen bzw. Notwendigkeit

Jeder dieser Punkte ist für sich eine hochproblematische Haltung, bedeutet einen Baustein im “Nazi-Denken” und sollte von uns abgelehnt werden. Vereinen sich alle diese Punkte kommt so was wie die NPD dabei raus. Doch jeder Einzelpunkt und das Bekenntnis zu einem dieser Einzelpunkte ist Teil eben jenes Diskurses, der es der NSDAP damals ermöglichte, so viele Menschen für sich zu gewinnen. Und sie haben (fast) alle mitgemacht. Es ist deswegen unsere Pflicht, dass wir uns mit diesen Elementen unseres Denkens auseinandersetzen und jedem, der darauf beharrt dieses Denken haben zu dürfen, erklären, dass wir das nicht gutheißen, nicht wollen und dass wir andere Werte haben, die sich an der freien Entfaltung orientieren, an der Individualität, an der Kostbarkeit jedes Menschen und an einer Gesellschaft, die jedem einen würdigen Platz ermöglicht. Um Hedwig Dohm zu zitieren, bezogen auf die Frauen, aber auch auf alle anderen Menschen und diskriminierten Gruppen anwendbar.

Wenn man mich um des Umstandes willen, dass ich mit weiblicher Körperbildung zur Welt kam, des Rechtes beraubt, meine Individualität zu entwickeln, wenn man der nach Wissen und Erkenntnis Verlangenden den wirklich überschätzten Kochlöffel in die ungeschickte Hand drückte, so jagte man damit eine Menschenseele, die vielleicht geschaffen war, herrlich und nutzbringend zu leben, in ein wüstes Phantasieland wilder und unfruchtbarer Träumereien, aus denen sie erst erwachte, als dieses Leben zur Neige ging.” (Die Antifeministen)

Und wenn jemand wie Sarrazin nun fordert, dass man die oben zusammengeführten Punkte – von denen er ja einige vertritt, wie ich das beobachten konnte – nun endlich wieder sagen können muss, dann heißt das in erster Linie nur, dass wir eigentlich einen gesellschaftlichen Konsens haben, der diese Diskursteile ablehnt, weil sie eben zu dem größten Verbrechen aller Zeiten führten. Und das ist gut, denn es zeigt, dass sich die Menschheit eigentlich irgendwie weiterentwickelt – weg von menschenfeindlichen Ansichten, hin zu Reflektion und so. (Übrigens: Biologie und Kultur zu trennen ist nicht zielführend und verstellt den Blick auf die eigentlichen Fragen. Und fragt euch mal: Wie kommt das Wissen, dass ihr habt in euren Kopf? Stichworte hier: Wissensoziologie, Wissensarchäologie)

Wenn wir nun die Meinungsfreiheit missbrauchen, um auch nur einen dieser obigen Punkte als validen Diskussionsaspekt zu adeln; Menschen, die auch nur einen dieser Punkte lautstark vertreten, Posten geben und dann auch noch ignorieren, wie viele Menschen so denken, dann sind wir ein regressiver Haufen von Vollhonks, die die Welt nicht verbessern werden, sondern nur denen eine Plattform liefern, die tatsächlich noch tief in diesem alten Denken verhaftet sind, welches der Poststrukturalismus eigentlich schon sehr schön dekodiert hatte. Jeder von uns muss in sich gehen und darüber reflektieren, wieso er was über diese Menschheit denkt – auch ich habe zu viele Punkte auf der Liste irgendwann in meinem Leben vertreten und es war für mich ein schwerer Akt der Auseinandersetzung mit mir selbst, wieso ich so dachte. Heute kann ich mich davon distanzieren, denn ich verstehe, wie vergiftend dieses Denken ist. Ich will, dass sich dem jeder stellt, jeder. Und ich will, dass wir als Partei fordern, dass sich jeder damit beschäftigt, damit er bei uns mitmachen darf. Ich will, dass wir uns mit den Ursachen des Holocaust auseinandersetzen, daraus lernen. Das Wissen ist da. Es ist überall. Wir müssen es nur annehmen. Aufsammeln.

Und was passiert, wenn man sich mit den Ursachen des Holocausts nicht beschäftigt, kann man ja sehr schön im heutigen Internetdiskurs sehen. Ich freue mich schon auf die Kommentare! Feuer frei!

Bisher zu dem Thema

  • http://juliaschramm.de/2010/08/31/deutschland-und-kulturnation/
  • http://juliaschramm.de/2011/10/30/wahrheit-und-normen/