Sehnsucht und Projektion

So findet alles seinen Ort in der Welt und seine Ordnung; aber diese Technik der Heiligenverehrung und Sündenbockmast durch Entäußerung ist nicht ungefährlich, denn sie füllt die Welt mit den Spannungen aller unausgetragenen inneren Kämpfe.
Robert Musil

Das Fleischfasten ist bedingt erfolgreich – zumindest habe ich bisher kein halbrohes rotes Rinder-Fleisch verzehrt, was das eigentliche Ziel war. Eitelkeit zu fasten war von Beginn an ein mutiges, weil kaum schaffbares, Unterfangen; doch wurde mir Dank dieses Vorhabens einiges klar,  vor allem über meine Mitmenschen und ihre Partnerwahl.

Am Anfang steht wohl der Trieb: Ein Lächeln, der Geruch, ein frecher Satz oder die Tatsache, dass der Gegenüber nicht so reagiert, wie man es gerne hätte, kurz: Ablehnung, stiften Verwirrung und aktivieren die triebhaften Phantasien. Plötzlich ist das neuerliche Objekt der Begierde der Prinz auf dem weißen Roß oder die Prinzessin auf der Erbse, aber auf jeden Fall die Rettung des eigenen Lebensglückes, die Erfüllung aller Träume, die man sich meist jedoch schon seit Jahren in seinem kruden Geiste zusammen gebastelt hat und die wirklich niemals etwas mit der Realität zu tun haben. Stattdessen werden die eigenen Weltanschauungen und Ideen auf das Objekt der Begierde projiziert, welches sich dem eigenen Seelenheil zu verschreiben hat – unabhängig von dem Menschen, der sich hinter der Projektionsfläche zu verbergen scheint. Das eigene Ego stülpt dem anderen ein Sein auf, dass sich nur aus der eigenen Phantasie rekrutiert, so dass abweichendes Verhalten als nicht nachvollziehbar abgewertet wird, als überraschend oder gar verrückt wahrgenommen wird. Wenn der Trieb spricht, hat die Empathie den Mund zu halten. Und so passiert es, dass Liebe gesehen wird, wo keine ist – bedarf wahre Liebe doch immer der Gegenliebe, wie es Schlegel so schön sagt – dass Verlangen erzeugt wird, das niemals erwidert werden kann – sei es nun auf körperlicher oder geistiger Ebene – und dass Herzen gebrochen werden, die eigentlich gar nicht zu brechen sein sollten.

Motor dessen ist ein künstlich produziertes Bild von Liebe, geprägt von Walt Disney, Sandra-Bullock-Filmen und Twilight, die immer wieder die gleichen Aussagen verkünden: Wahre Liebe ist etwas Übernatürliches, etwas, was wir nicht beeinflussen können, ein Geschenk Gottes, unabhängig von dir und deinem Wesen. Die Tatsache, dass der Vampir Edward Bella liebt, weil er ihre Gedanken nicht lesen kann, zeigt, wie wichtig die Möglichkeit der Projektion der eigenen Gedanken in das Leben des Anderen ist. Außerdem liebt er sie einfach – egal was sie tut, egal wer sie ist, egal wie langweilig und nervig sie ist – Liebe wird hier zum Zeichen des unumgänglichen Weltgeistes! Doch sind wir mal ehrlich: Was von der triebgeleiteten flüchtigen Obsessionen ist nur ein hormoneller Ausbruch und was ist wahre Zuneigung? Ist wahre Liebe nicht auch Arbeit? Müssen wahre Gefühle nicht wachsen? Wie kann ich glauben jemanden zu lieben, den ich nur ein paar Tage kenne? Wird nicht vielmehr Verknalltheit mit echter Liebe verwechselt?

Nicht zu vergessen und zu unterschätzen ist bei diesem eigenwilligen und individuellen Bild von Liebe die subjektive Interpretation der familiären Banden – wie drückt es Leonards Mutter in Big Bang Theory so schön aus: „If you want to have intercourse with that girl, find out what kind of cologne her father wore.“ Und so müssen wir uns wohl der Tatsache stellen, dass sich die meisten Menschen in Beziehungen, welcher Art auch immer, stürzen, ihre innere Leere vielleicht mit dem Anwerfen des Hormonapparates bekämpfen wollen, und das aus völlig falschen Motiven. Sei es nun die Suche nach dem Disney-Partner oder der krampfhafte Versuch die Liebe der Eltern, projiziert auf den Partner, doch noch zu erhaschen.

Sehnsucht, mittelhochdeutsch für Krankheit des schmerzlichen Verlangens, entsteht nun genau dann, wenn ein Bild auf einen Menschen projiziert wird, der diesem Bild nicht entsprechen kann oder will. Die abstrakte Sehnsucht nach „der großen Liebe“ verbiegt die Wahrnehmung und verschließt letztendlich das Herz vor echten Begegnungen. Der Blick richtet sich nicht auf den Menschen selbst, sondern auf das was man sich wünscht, was dieser Mensch sein soll, auf die Anlagen die der Mensch hat, das Potential auf die Disney-Figur, die man sich wünscht. Das Siechtum beginnt. Doch auch hier muss man sich ehrlich die Frage stellen: Ist eben nicht das Siechtum gewollt? Ist das Leiden nicht exakt das, worin man sich suhlen will? Erzeugt nicht das Leiden eben einen Moment der Lebendigkeit? Letztendlich zeigt sich hier der tiefste Egoismus, der aus einem fehlenden Selbstgefühl resultiert. Externalisierte Egozentrik in Form von Projektion als Weg zum eigenen Ego, ohne den Weg wirklich zu beschreiten. Lieben ohne zu lieben. Sehnsüchten nur um der Sehnsucht Willen. Hier liegt ein Kern für viel Unglück in unserer modernen Gesellschaft, denn ist der vermeintlich begehrte Mensch dann nicht vollkommen austauschbar?

Ich für meinen Teil habe das Projizieren satt und beseitige es. Ab jetzt geht es um den Menschen, den ich vor mir habe, um echtes Interesse und wahrhafte Gefühle. Sowohl freundschaftlich, als auch romantisch.


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