Am 20. Oktober war ich Gast im Ossietzky-Kreis und habe da ein paar Anmerkungen zur LINKEN und allgemein gemacht. Hier dokumentiere ich das Manuskript:
Liebe Anwesende,
Lieber Ossietzky-Kreis,
ich freue mich sehr heute hier sein zu können. Nicht nur, weil es eine lange, dunkle Zeit vor kleinen Bildschirmen mit Kacheln voller Menschen vor kleinen Bildschirmen war und ich, trotz meiner grundsätzliche Introvertiertheit, menschlichen Kontakt begonnen habe zu vermissen, sondern auch, weil das Thema des Abends ein großes ist, weil die Bearbeitung der post-Merkel-Ära jetzt beginnt und weil ich der Meinung bin, dass das Ende von Merkel und der Wahlausgang für Die LINKE ganz eng verwurzelt sind. Deswegen will ich ein paar Anmerkungen zu Merkel, dieser Wahl, dem Zustand der Linken und die Möglichkeiten eines Sozialismus im 21. Jahrhundert machen.
Das Ende Merkel war schon lange bekannt, aber so richtig einzusortieren war nicht, was an ihrem Ende kommen würde. Für ein Danach fehlte eine konkrete Vision, eine Idee. Ein Leben ohne Mutti – kaum vorstellbar. Dass die Union ohne Merkel ein bräsiger Verein mittelmäßiger Anzugträger mit Hang zur schmunzelnden Cholerik und einem flexiblen Verhältnis zur Wahrheit ist, wurde von Armin Laschet ganz ausgezeichnet vorgetanzt – Laschet verkörpert damit die Union und zuweilen auch das alte Deutschland in einer Weise authentisch, wie das Merkel nie gekonnt hätte. Ein Deutschland der älteren Herren aus dem Westen, die keine Selbstreflexion kennen und alles lächerlich finden und machen, was von ihrem Leben und ihrer Realität abweicht.
Nur, dass dieses Deutschland dabei ist auszusterben. Markus Söder hat das begriffen. Dass er sich nicht gegen die Laschet-Union durchsetzen konnte, wird am Ende seinen Weg ins Kanzleramt als erster Bayer sogar wahrscheinlicher machen. Gerade die Andersartigkeit Merkels gegenüber der westdeutschen Mittelmäßigkeit eines Laschet war die Grundlage ihres Erfolgs. Frau, Ossi, Physikerin waren Attribute, die kontraintuitiv zur traditionellen Union standen und so die Ausstrahlung einer erneuerten Christdemokratie ermöglichten. Dass die alte Christdemokratie immer unter dem Deckmantel waberte und mit Laschet an die Oberfläche platzte, zeigt vor allem eins: Merkel ist nicht die Union. Aber so ist es mit Spitzenpolitiker:innen, wenn sie welche werden wollen immer. Sie müssen sich in der Mediendemokratie von ihrer Partei lösen, sonst gehen sie in ihr unter. Dass Merkel, ganz im Gegensatz zu dem, was die AfD gerne behauptet, Deutschlands ökonomisches Interesse in der Welt und Europa knallhart durchsetzte, gleichzeitig die soziale Spaltung laufen ließ, hat den Boden für Nationalismus und gnadenlose Konkurrenz verschärft. Der Zynismus der Konkurrenzgesellschaft hat sich final Bahn gebrochen. Zumindest ist das mein persönlicher Eindruck.
Die Liste der verfestigten Konkurrenzgesellschaft unter Merkel ist lang: Die Bankenrettung, die ökonomisch-psychologisch zunächst klug, aber zynisch war, wurde zum Startpunkt eines rigorosen Diktats der Banken und Märkte. Griechenland wurde zum bekanntesten Opfer dieses Diktats: An die vermeintliche Rettung nach der Bankenpleite waren knallharter Sozialabbau geknüpft, begleitet von einem rassistischen Diskurs über „faule Griechen“ der völlig kontrafaktisch zu den Arbeitsbedingungen in Griechenland stand. Merkel hat diesem Diskurs nie Einhalt geboten, im Gegenteil hat sie ihre Macht in Europa damit gesichert und ihre Wiederwahl 2013 garantiert. Griechenland wurde zur Blaupause für den sukzessiven Verfall der Europäischen Union und den Brexit. Der gedankliche Spielraum eines Austritts wurde erst mit dem angedrohten Rauswurf ermöglicht.
2014 dann die Krim – eine bis heute kaum durchschaubare Gemengelage, die mit den alten Kategorien von Imperialismus, Pazifismus und Geopolitik kaum zu bewerten ist. Aber dazu gleich mehr. Auch hier hat Merkel die Interessen des Westens vertreten, hat damit aber mindestens auch im Osten die eigene Partei etwas vor den Kopf gestoßen, die, wie das im Osten etwas üblicher ist, offener gegenüber Russland ist. (Siehe den letzten opulent inszenierten Besuch von Merkel-Kritiker Kretschmer) – noch fataler jedoch war die unzuverlässige Berichterstattung über die Krim, die dem Narrativ „Lügenpresse“ neuen Aufwind gab und in dessen Zug die sogenannten Montagsmahnwachen entstanden. Ende des Jahres 2014 hatte sich dann Pegida gegründet und 2015 eskalierte der Auftrieb der radikalen Rechten in der sogenannten „Migrationskrise“, die auf eine mittlerweile lange Erzählung des Islamhasses und Rassismus fußt. Was Merkel in all ihrer Rationalität völlig unterschätzt hat, war die rasante Eigendynamik der deutschen Volksseele, deren menschenverachtenden Einstellungen in den letzten Jahrzehnten durch die Konkurrenzgesellschaft und die systematische Ungerechtigkeit im Osten massiv Auftrieb bekommen haben.
Angela Merkel hatte nie einen Sinn für ökonomische Ungerechtigkeit, war sie doch selbst kaum von ihr betroffen. Existenzsorgen und ihre destruktiven Auswirkungen auf Psyche und Wohlbefinden hat sie bis heute wohl nicht ganz begriffen. Überhaupt sind ihr menschliche Niederungen eigentlich unverständlich und zuweilen zuwider. In meinem Buch 50 Shades of Merkel habe ich sie mit Sheldon Cooper von The Big Bang Theory verglichen. Ohne eine Pathologisierung vorzunehmen, lässt sich zweifelsohne sagen: Überschwappende Emotionen, ausuferndes Ego oder gar Egozentrik sind Angela Merkel fern. Ein Faktor ihrer Beliebtheit, aber auch im Resultat ein blinder Fleck in ihrer Herrschaft. Angela Merkel steht in dieser Logik für einen rational-technischen Humanismus, der sich ganz dem Glauben verschrieben hat, dass es jede:r schaffen kann, dass sozio-ökonomische Umstände nur eine Ausrede sind oder ein Hindernis, das es mit genug Willen zu überwinden ist. Sein muss. Dass dies nicht der Fall ist, zeigen Studien in großem Detail: Geld konzentriert sich nicht nach Fähigkeiten, sondern nach Familienhintergrund, ebenso schulische Leistungen oder Erfolge im weiteren Berufsleben. Dass der Kapitalismus so funktioniert, wie er funktioniert und das sogar äußerst schnurlos ist ja keine Verschwörungserfindung von findigen Marxist:innen, war aber bei Angela Merkel stets etwas zu belächelndes.
Dabei sind die Herrschaftsverhältnisse stark zementiert worden in den letzten Jahren: Die Reichen werden reicher, internationaler und vernetzter. Das haben die Pandora-Papers wiederholt bewiesen. Steuerdumping und -hinterziehung, globale Ausbeutung und so weiter. Diese Verhältnisse werden auf Biegen und Brechen verteidigt – große Teile der ökonomischen Wissenschaften sind in diesem Dienste. Die Sozialdemokratie hat die Härten des Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten abgemildert – bzw. zum Outsourcen animiert und auch die Europäische Union ist Teil dieser Abminderung. In Großbritannien zeigt sich jetzt, wie diese progressiv-neoliberale Gesellschaft ökonomisch aufgebaut ist: mithilfe von Freihandelsabkommen und Arbeitsmigrant:innen. Dass diese Wahrheiten nicht öffentlich ausgesprochen werden können, ist Teil des großen Problems des Selbstbetrugs, den wir in den westlichen Gesellschaften leben und der in Deutschland von Merkel lange durch geschicktes Polit-Handwerk verschleiert wurde. Die Krux konkret: Deutschland profitiert von der ungerechten Wirtschaftsordnung. Das wissen auch die Wähler:innen. Mindestens unbewusst. Es ist zu offensichtlich, dass Menschen an anderen Enden der Welt Produkte für den Westen produzieren und Ressourcen abgeben.
Dieses Wirtschaftssystem wird auf unterschiedliche Art und Weise gerechtfertigt – die Mitte-rechts-Parteien machen das mal mehr, mal weniger offen, während die Mitte-links-Parteien sich entweder anpassen oder daran zerbrechen. Dass die Verteilung innerhalb dieses von der ungerechten Weltwirtschaft profitierenden Systems ungerecht ist – das regelt (jetzt wieder) die SPD bzw. die Grünen. Selbst die FDP hat ein faires nationales Verteilungssystem vor Augen – eins, dass für Linke auf einem komischen Götzen und Finanzvoodoo basiert, aber auch um die nationale Verteilung geht. Und das für einen relevanten Teil der Bevölkerung authentisch ist. Der Erfolg der Grünen kam wiederum mit dem Re-Branding von nationalem Interesse unter Klimaschutzaspekten. Das bringt organisierte Sozialist:innen in eine grundsätzliche komplizierte Situation: Für internationale und wirtschaftliche Gerechtigkeit zu kämpfen auf der einen Seite bedeutet de facto die Art und Weise, wie Deutschland seinen Wohlstand organisiert, abzulehnen. Das wurde in der Corona-Krise nochmal bildhaft: Das Klopapier kam in Berlin plötzlich aus Polen, die Nudeln aus Italien. Der Konsum wurde gesichert auf Kosten der anderen. Diese in sich ungerecht organisierte national-sozialdemokratische Konkurrenzgesellschaft hat insgesamt Spuren hinterlassen, mental und emotional.
Der Kampf um Ressourcen und die Legitimation hat immer aberwitzigere Erklärungsmuster hervorgebracht und ist die Grundlage für Fake News – wenn ständig die Wahrheit verdreht wird, damit einige die Macht behalten, ist Wahrheit irgendwann komplett Verhandlungsmasse.
Wenn offensichtliche Wahrheiten immer wieder aus Eigennutz negiert werden, dann gibt es keine Wahrheit mehr, sondern nur noch Meinung. Dass diese Umgebung auch der Rahmen für einen Wahlkampf war, der in weiten Teilen faktenbefreit und stellenweise auf kompletten Lügen basierte, ist nur die logische Konsequenz daraus. Klaus Dörre hat diese Theatralisieren der Politik im Jacobin Magazin mit Referenz auf Bernie Sanders wie folgt formuliert: Ein Thema erscheint umso weniger wichtig, je mehr es arbeitende Menschen betrifft. Hingegen steigt die mediale Aufmerksamkeit in dem Maße, wie die Relevanz der Themen für die Lebenswelt der unteren Klassen schwindet. Politik wird mehr und mehr zur Unterhaltung. Spektakel, Skandale, gegenseitige Beleidigungen, Illoyalitäten und Intimitäten bekommen den Rang von öffentlichen Ereignissen. Während sich die Union also zunächst siegessicher generierte, in dem festen Glauben, ohne Angela Merkel stärker zu sein, und zu Beginn ihre Angriffe auf Annalena Baerbock konzentrierte, merkte sie nicht, dass sie mit ihrer Angriffslinie die Nachfolge Merkels bedürfe, eines erfahrenen Mannes, Olaf Scholz bewarb. Auch die Linke tat sich keinen Gefallen einer nach links orientierten SPD sozialdemokratisch das Wasser abgraben zu wollen. Exemplarisch dafür: 12 oder 13 Euro Mindestlohn sind kleinliche Scharmützel, die in der Masse nicht verstanden werden – die Tatsache, dass ein nicht unerheblicher Teil der Partei diese Problematik nicht hat kommen sehen, ist Teil des Problems.
Nach 16 Jahren Merkel war zu erwarten, dass der Wahlkampf schmutzig wird. Unangenehm ist Machtkampf immer, das weiß jeder und jede, die in einer Partei engagiert ist. Aber Machtkampf mit dem politischen Gegner ist dann nochmal eine Spur härter. Machtkämpfe sind deswegen auch Katalysatoren für neue politische Realitäten. Das haben die Grünen und Annalena Baerbock schmerzlich erfahren müssen und am Ende auch die Linke, die mit ihrer Offenheit fürs Regieren zwar einige Sympathien wecken konnte, aber beim anschließenden Abklopfen auf die Aufrichtigkeit dieser Offenheit gnadenlos als Hochstaplerin entlarvt wurde. Die Abstimmung zu Afghanistan hat das deutlich gezeigt und den Kritiker:innen überall bestätigt, was viele immer glaubten: Die Linke will jetzt zwar regieren, aber ist dazu noch nicht bereit. Teile der Partei haben unterschätzt, wie desolat die Partei tatsächlich ist und wie weit weg, insbesondere im Westen, von Minister:innenämtern und einer klaren Befähigung zur Regierungsbeteiligung. Es war nicht Afghanistan als Thema, es war die Tatsache, dass einer der größten Erfolge der Linken, nämlich ihr 20-jähriges Nein zum Krieg, am Ende als rechthaberisches Zunge-raus-strecken rüberkam und SPD und Grüne die Steilvorlage gab, die Linke als unzuverlässig und latent irre darzustellen.
Auch den inhaltlichen Angriffen der Gegner, die z.T. schlicht als Lügen identifiziert werden müssen, konnte kaum etwas entgegengesetzt werden, da der innerparteiliche Krieg in der Linken so viele Ressourcen gefressen hat, dass erst im Wahlkampf wirklich zu den eigentlichen Themen Stellung genommen wurde. Während also die Partei im Krieg mit sich selbst war, forderte sie gleichzeitig riesige Reformen, die sie nicht ordentlich begründen konnte, in der Tiefe schnell kapitulieren musste und vom Gegner im Handumdrehen vorgeführt wurde.
Auffällig ist bei dieser Wahl, dass die modernen, neoliberalen, man will sagen progressiv neoliberalen, Parteien gewonnen haben, während die Parteien, die gegen den modernen progressiven Neoliberalismus stehen, wie ihn Nancy Fraser definiert hat, verloren haben.
Die Union mit ihrer altbackenen Moral und den völlig abgehalfterten Wirtschaftsvorstellungen, sowie die völkische AfD, die grotesk in ihrer impulssteuerungsgestörten Menschenverachtung ist und wirtschaftspolitisch so neoliberal verwahrlost, dass es ganz offenkundig volkswirtschaftlich schädlich wäre, was sie fordert, auf der einen Seite und die Linke, die sich nicht entscheiden kann, wie sie den Riss in der neoliberalen Wohlfühlblase für sich zu nutzen weiß und sich zwischen linkskonservativer Kritik, die kaum von katholischen Priestern in Prüderie und Dogmatismus zu unterscheiden ist und einem utopischen Linksradikalismus zwischen Folklore und individueller Identitätskrise zerreißt. Diese drei Parteien sind die Verlierer:innen dieser Wahl. Vor allem die Linke hat es hart erwischt, die AfD konnte sich auf einem stabilen rechtsradikalen Niveau halten, obwohl sie natürlich den Anspruch Volkspartei unironisch ausgegeben hat und die Union, naja, siehe oben. Die Linke konnte sich nur dank des urbanisierten Ostens und der Grundmandatsklausel überhaupt in den Bundestag retten.
Merkel hat an dieser Misere für die Linken ihren Anteil. Sie hat es Linken nicht leicht gemacht, sie zu kritisieren bzw. hat es die Linke nicht geschafft, sie zu kritisieren auf den Feldern, wo es sie zu kritisieren gilt: bei den ökonomischen Fehlstellungen und den größeren makroökonomischen Zusammenhängen bspw. Das wiederum war aber aufgrund innerparteilicher Konflikte kaum möglich. Ähnlich wie Union und auch AfD sind die Linken dabei weder in sich harmonisch, noch geschlossen, noch haben sie ein leicht verständliches Ziel. Vielleicht liegt es daran, dass sie tendenziell die Verlierer:innen der derzeitigen Entwicklungen repräsentieren – selbst die von Wagenknecht gescholtenen Lifestyle-Linken finden sich eher bei der SPD und den Grünen als bei der Linken. Die FDP ergänzt das ganze mit einem klaren Bekenntnis zu beispielsweise Europa und sexuellen Selbstbestimmungsrechten, einem Versprechen von Digitalisierung und dem Benennen von Diskriminierung als Wettbewerbsverzerrung.
Gleichzeitig steckt die Linke in den Konflikten fest, dass sie seit der Bankenkrise eigentlich immer zwischen nationalem Interesse und Umverteilung und internationaler Solidarität hin- und hergerissen ist. Alle Konflikte der Linken, so meine These, sind am Ende auf diese Problematik zurückzuführen, aus der eine strategische Orientierungslosigkeit und somit ein Kampf um Performanz, Tonalität und Positionierung entsteht. Hinzu kommt, dass die Konkurrenzgesellschaft auch von Linken erfordert in Form einer Ich-AG zu agieren, sich aus der Masse abzuheben und mit immer radikaleren Phrasen billigen Applaus zu bekommen. Gleichzeitig ist Solidarität einfordern und sie so offensichtlich nicht leben selbstredend abschreckend. 16 Jahre Merkel hinterlassen ein tief gespaltenes Land – das ist keine Phrase, sondern simple Realität. Die ökonomischen Realitäten sind und bleiben ungerecht und das fraktal im Verhältnis zur globalen Ungerechtigkeit. Auf diesem Boden wird die Gesellschaft nicht zusammenfinden können. Weder die deutsche, noch die europäische, noch die globale. Die Linke hat in diesem Szenario nur eine Chance, wenn sie sich mit diesen Realitäten radikal auseinandersetzt, sich nicht von jeder Dissonanz aus dem Konzept bringen lässt und die Feinde nicht ständig in den eigenen Reihen sucht.