Ab und Lass

Der Marsch ist anstrengend. Er führt durch enge Gassen, es riecht nach den Exkrementen der letzten Jahrhunderte, vermischt mit Teer und Müll. Wir durchqueren die Häuserfluten, retten uns ins die Schattenlöcher vor der erbarmungslosen Sonne und ersehen die stets klimatisierte Systemgastronomie herbei. Die Taschenhenkel der neu erworbenen, aber absolut umständlichen Handtasche schneiden ins schwitzende Fleisch. Das Lederimitat reibt sich in die geweitete Poren. Die verdammte Eitelkeit rächt sich abermals. Die Stimmen der Mitmarschierenden versinken im dumpfen Allerlei des Moments, Schwindel macht sich breit. Der Kopf beinah leer, die Beine schmerzend und die Ansprechbarkeit verloren, torkle ich über eine Brücke, von der ich glaube, dass sie gülden ist. Also restauriert mit güldener Farbe. Sonst stünde sie wohl nicht mehr da und wäre von den bettelnden Massen, die uns gefühlt begleiten und mir die Tränen in die Kehle treiben, abmontiert worden. Die traurigen Blicke, zum Teil die fehlenden Gliedmaße, die zerrissene Kleidung erinnern mich daran, in was für einer unbarmherzigen Welt ich leben muss und wie gut es mir geht, was für Privilegien ich genieße und dass ich die Ressourcen dieser Erde gerade auf die billige Kopie einer Designerhandtasche verschwendet habe. Ich fühle mich ohnmächtig und schmeiße das Geld für mein Mittagessen in einen der verbeulten Plastikbecher, die mir dankenswerter Weise ins Gesicht gehalten werden. Würden sie mich jetzt ausrauben, wäre ich ihnen nicht mal böse, auch wenn das Prinzip der Wohlfahrt nur ein billiges Herrschaftsinstrument ist, das ich ablehnen sollte. Im Nachhinein meine ich mich zu erinnern, dass ich japse und um das Ende der nervenzerrenden Besichtigung einer italienischen Stadt flehe. Die Reisegruppe nähert sich einem Dom, sagen sie. Die Reisegruppe kommt zur ersten Etappe, versprechen sie. Die Reisegruppe hat noch viel zu bestaunen, beschwichtigen sie. Ich seufze.

Mit letzter Kraft nun schleppe ich mich durch die sonnengetränkten Gassen, schwitzend, leidend. Das Ende erwartend. Wie das halt so ist als westliches Wohlstandskind der 80er mit leichtem Übergewicht auf einem Fußmarsch über 7 km in der Sonne. Stöhnend lehne ich mich an eine Steinmauer, bevor ich mich um eine Ecke schleppe, hinter der sich ein Anblick verbirgt, der mir die Lebenskräfte schlagartig zurückgibt. Vor mir breitet sich eine Kathedrale aus, deren gleißende Aura mich durchdringt. Sie leuchtet kalkfarben vor dem trüben Sommerhimmel, freischwebend. Die Pracht erdrückt mich und lässt die Tränen aus der Kehle frei. Begierig sauge ich die in den Gewölben versteckte Geschichte ein. Ich sehe Menschen, ihre Hoffnungen, ihre Sorgen der letzten Jahrhunderte in die Kathedrale strömen, beten, leiden, jubeln. Der Hauch von Weltgeist durchströmt mich, den ich mir so oft wünsche. Ich bin gebannt von der Übermacht, der Doppeldeutigkeit, die sich vor mir auftut. Vor mir stehen hunderte Jahre Geschichte, verpackt in Marmor und Gold, meterhohe Decken und Gemälde über deren Entstehen an der Decke man nur rätseln kann. Es ist angenehm kühl in diesem Tempel der Sühne, der stellvertretend für die Unterdrückung und Versklavung durch die katholische Kirche steht. Ein Symbol für das Blut und Leid vieler, für ein System der Unterdrückung, für Lügen und Strafen. Für Ablass.