Ideologie und Emanzipation

Oder: Wieso die Piraten nicht Post-Ideologisch sein können

Der Begriff Ideologie stammt aus der Zeit der französischen Revolution und erlebte drei begriffliche Taufen. In Gefolgschaft der franzöischen Revolution setzten sich die so genannten Idéologistes, ein Neologismus analog zur Ontologie, nach dem Sturz der Jakobiner das Ziel eine analytische Wissenschaft von Ideen einzuführen. Also die Frage nach der Entwicklung und den Elementen der Metaphysik. Als nächster Taufpate wird Napoleon verstanden, der diese Ideologen, den Werten der Aufklärung verbunden, herablassend verspottete – und schließlich als Kampfbegriff nutze um seine Gegner zu diffamieren. Jeder Widerspruch gegen ihn galt als Ideologie. Schließlich nahm sich auch Karl Marx dem Begriff Ideologie an und arbeitete heraus, dass Ideen von den Herrschenden zur Zementierung ihrer Herrschaft genutzt wurde. So münzte er seine Klassenkampftheorie um und erklärte die Ideologie zum Kampfbegriff gegen die herrschende Klasse. Man kann also erkennen, dass bereits im 18. und 19. Jahrhundert der Begriff sehr verschiedene Bedeutungen hatte. Dem folgend ist auch die Forschung mit diesem Begriff weitläufig und unordentlich – geprägt von verschiedenen Herangehensweisen und Interpretationen.

Die marxistische Dimension der Ideologie lasse ich an dieser Stelle aus und versuche die Ideologie als immanentes Gegenstück zur Religion zu erarbeiten. Dafür muss zunächst der Unterschied zur Religion dargestellt werden: Religionen sind seit Jahrunderten oder Jahrtausenden im Wandel und haben ganze Gesellschaften geprägt und aufgebaut, während Ideologien künstliche Gebilde einer modernen, säkularisierten Marktgesellschaft. sind Ideologien tauchen in diesen Gesellschaften als Antwort auf eine Krise der Religion auf. Beobachten kann man dies in erster Linie seit der europäischen Neuzeit, als Gott seine Omnipotenz zunehmend verlor, also ein Glaubenswettbewerb begann. Die Spaltung der römischen Kirche öffnete diesen Wettbewerb. Alternative Erklärungmodelle für die Gesellschaft, ihre Mechanismen und ihre Zukunft wurden entwickelt – das 19. Jahrhundert wurde zum Zeitalter der Utopie. Doch nicht nur das: Viele meinten, mit Ideologien die Werkzeuge für den richtigen Weg der Menschheit gefunden zu haben, den gesellschaftlichen Schlüssel zum Frieden, zum idealen Ende der Menschheit.

Die Rolle Gottes wurde nun der Geschichte, der Rasse, einer Idee oder einer Person zugeschrieben und am Ende dieses Jahrhundert der Utopien stand das Zeitalter der Extreme, wie es Eric Hobsbawn ausdrückt. Als Ideologien haben sich in diesem Zusammenhang vor allem der Nationalsozialismus und der Kommunismus erwiesen, an deren Beispielen die neuere Forschung in erster Linie orientiert war und ist. Auch der Islamismus wird zunehmend als Objekt des Interesses gehandelt und untersucht.

Was die literarische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den totalitären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts jedoch gezeigt hat, ist eine gesellschaftliche Funktionalität von Ideologie und Religion. Das menschliche Bedürfnis nach Sinnstiftung entspringt, so Voeglin, in seiner Kreatürlichkeit, so dass er eine höhere Ordnung braucht um seine Existenz zu erklären. Der Geist ermöglicht es über die bloße physische Existenz hinaus denken zu können, so dass der Mensch in der Spannung zwischen Transzendenz und Immanenz lebt und sich seine Existenz in einer Zwischensphäre abspielt. In einer höheren Ordnung einen Platz zugewiesen bekommen stillt die quälende Frage nach dem Sinn des Lebens. Die religiöse Transzendenzerfahrung ermöglicht es dem Menschen auf einem intellektuell anspruchslosen Niveau diese transzendentale Sehnsucht zu stillen. Im Verhältnis zu Gott kann man zu der inneren Ordnung und dem inneren Sein gelangen.

Hierbei handelt es sich in erster Linie um eine emotionale Erfahrung, welche die Ideologie zu replizieren versucht, jedoch ohne einen transzendenten Bezug. Gerade in kollektiven Massenereignissen scheint die Grenze zur Transzendenz immanent erreicht zu sein. Wesentlich für eine erfolgreiche Ideologie ist somit die Inklusion, als auch die Exklusion in Form der Erzeugung von Einzigartigkeit für den Einzelnen. Mein (imaginärer) Freund im Himmel oder der Reichskanzlei, gibt mir eben dieses Gefühl der Einzigartigkeit und gleichzeitig das Wissen Teil eines sinnhaften Ganzen zu sein.

Der Machtverlust der transzendenten Ebene in der modernen Gesellschaft, ausgelöst u.a. durch Industrialisierung, das aufkommende Bürgertum und die französische Revolution,  führte zu einer Verweltlichung der Religion, was wiederum eine massiven Entmysthifizierung mit sich brachte. Die Entzauberung der Welt, wie es Max Weber richtig erfasste. Und so ist die Religion und die Ideologie eine Form die Welt zu erfassen, denn beide wirken sinnstiftend. Unterschiede gibt es wesentlich in ihren Bezügen, nicht aber in ihrer Funktion, ihren Institutionen, den Verhaltensweisen, die sie bei ihren Anhängern hervorrufen. Die Ehrfurcht vor Gott wird in der Ideologie, wo der Mensch zum Gott erklärt wird, zur Ehrfurcht vor dem Führer der ideologischen Bewegung. Denker wie Voeglin schlossen daraus, dass eine christliche Gesellschaft ssomit weniger Schaden anrichten würde, frei nach dem Motto: Besser Christ, als Nazis.

Und vor allem das Sendungsbedürfnis ist sowohl bei Religionen, als auch Ideolgien stark. Schließlich will man die Wahrheit mitteilen, wenn man glaubt sie zu kennen. Während Religionen einen transzendentalen Bezug haben, die Erlösung überweltlich sehen, suchen und finden Ideologien vermeintlich die Erlösung innerweltlich. Das immanente Erlösungsmoment ist das zentrale Motiv der Ideologie: Das Paradies auf Erden schaffen. Und das mit rücksichtsloser Prinzipienhaftigkeit. Und spätestens hier wird dann auch der Bezug zur Piratenpartei klar.

Emanzipation als gesamtgesellschaftliche Aufgabe – Post-Ideologie als Politikanspruch

Man kann also festhalten, dass dem Menschen ein Wunsch nach Sinnstiftung, nach Transzendenz, ja, nach Wahrheit innewohnt und Ideolgien dieses Bedürfnis ebenso stillen, wie es Religionen tun. Ein geschlossenes Denksystem ist das Ziel, dass alles sinnhaft macht, dass dem Menschen eine Funktion im Weltgetriebe zuweist. Katalysiert werden kann das im Wesentlichen von den verschiedensten Bewegungen – Umweltfanatismus oder Promiskuität können dem Leben vermeintlich ebenso Wahrhaftigkeit verleihen. Lösung für diese “transzendentale Sehnsucht” ist zweifelsohne eine echte Emanzipation – also das Denken ohne Geländer, ohne geschlossenes Denksystem, ohne Zwänge. Oder wie es Adorno in “Dialektik der Aufklärung” ausdrückt: „Das Bestehende zwingt die Menschen nicht bloß durch physische Gewalt und materielle Interessen sondern durch übermächtige Suggestion. Philosophie ist nicht Synthese, Grundwissenschaft oder Dachwissenschaft, sondern die Anstrengung, der Suggestion zu widerstehen, die Entschlossenheit zur intellektuellen und wirklichen Freiheit.“ Die übermächtige Suggestion kann hierbei als das mittlerweile vielfältige Weltanschuungaangebot verstanden werden, das die Welt in ihrer Komplexität reduziert. Natürlich ist eine gewisse Komplexitätsreduktion notwendig um sich in der Gesellschaft zu orientieren, sobald jedoch eine Patentlösung für das ideale Ende der Gesellschaft vermeintlich erkannt wurde, sind wir schnell bei der Endlösung. Es geht also vielmehr um das Befreien des Denkens von dem Wunsch für alles eine Erklärung, eine Lösung zu haben. Echte Freiheit erweist sich hierbei als anstrengend, als Herausforderung. Die Unfreiheit, das Aufgehen in einem geschlossenen Denksystem, abseits jeder Verantwortung wirkt unter diesen Prämissen verführerisch. Deswegen sind Verschwörungstheorien so spannend und immer wieder präsent. Doch den heiligen Gral, die eine Lösung gibt es nicht. Weder gesellschaftlich, noch politisch. Das Anerkennen von Unsicherheit, Ungewissheit und dass das Sein wohl oder übel das Nichts ist, ist eine wesentliche Aufgabe des Individuums, muss jedoch als politischer Anspruch verankert sein. Konflikte dürfen nicht ausgemerzt werden, sie müssen institutionalisiert und als Motor des gesellschaftlichen Entwicklung verstanden werden. Ein post-ideologischer Anspruch kann somit nur im Bewusstsein einer zu erwirkenden Freiheit des Denkens verstanden werden – eines Denken der ganzen Komplexität und einer Anerkennung von Unzulänglichkeit. Der Versuch einer Zwangsharmonisierung kann nur in einer totaliätren Gesellschaft enden. Post-Ideologie kann so nur den Versuch sich gedanklicher Konstrukte so weit es möglich scheint abzuwenden  beschreiben, sich der Situation und der Gegenwart anzunehmen, sie zunächst zu akzeptieren und Lösungen zu finden, die unabhängig von einer höher gelegenen Sinnstiftung sind. Deswegen definiere ich Pragmatismus eben auch als Gegenpol zum Dogmatismus – unter den man in meinen Augen die transzendentale Sehnsucht zusammenfassen kann. Denn nur auf festen Füßen können Ideen ungefährlich gedeihen. Geschlechtsunabhängige Emanzipation, wie oben verstanden, kann und muss ein wesentliches Element einer progressiven Politik sein – muss das Leitprinzip sein, das Ideal. Hier werden auch andere philosophische Strömungen berührt, wie der Existenzialismus z.B. Wichtig ist hierbei  zum einen der Anspruch, jedoch auch die bildungspolitische Infrastruktur, denn  Politik muss, nach Hannah Arendt, Freiheit ermöglichen. Politische Freiheit existiert in einer Welt jedoch nur, solange die transzendente Ebene nicht ausgeschlossen ist und die entsprechenden Institutionen nicht verbannt werden. Toleranz und Pluralismus, sei es noch so konfliktträchtig, ist integraler Bestandteil einer offenen Gesellschaft und muss auch auf kleinster Ebene bereits gelebt werden.

Und wie sieht das im Verhältnis von Internet und Ideologie aus?

Das Internet bietet uns nun eine neue Dimension der Utopie: Eine demokratischere und freiheitlichere Gesellschaft, an der mehr Menschen partizipieren können, entscheiden können: Die Utopie einer besseren Gesellschaft. Am von mir beschriebenen transzendenten Grundbedürfnis des Menschen ändert sich jedoch nichts, so dass sich die Frage stellt: Wie katalysiert das Internet dieses Bedürfnis? Wie geht es damit um? Welche Chancen bietet es, welche Risiken entstehen? Das Verhältnis von Ideologie und Internet ist ebenso dual wie ambivalent. Vorteile und Chancen stellen somit auch potentielle Gefahren dar.

Denn Ideologien sind auch immer dichte Kommunikations- und Weltanschauungsnetze. Das Internet nun ermöglicht zum einen eine Dezentralisierung und somit eine stärkere Pluralisierung von Ideen und somit auch Ideologien, eine Auflöung scheint denkbar. Die digitale Aufklärung erscheint am Horizont. Mehr noch kann jeder seine individuelle Form der Ideologie erstellen. Ideologien ermöglichen, wie bereits angeführt, eine funktionale Rolle einzunehmen, die mit der Anerkennung und Wahrnehmung der eigenen Person verbunden ist. Es besteht eine Möglichkeit der radikalen Individualisierung, im extrem gar eine Vereinsamung. Gleichzeitig ergibt sich die Möglichkeit Gleichgesinnte zu finden, mit denen sich wiederrum Ideen verknüpfen lassen – die Grundlage für neue, globale Ideologien.

Sein ist Wahrnehmen und Wahrgenommen werden. Das Internet als globales Vernetzungsmedium erhöht hierbei Frequenz, als auch Fluktuation der eigenen Identitätsbildung. Die Kontrolle über das Wahrnehmen steigt ebenso wie die Kontrollmöglichkeit über das Wahrgenommenwerden steigt. Das Internet emuliert gleichzeitig auch das Gefühl in der Welt zu sein, zur Welt sprechen zu können. Der Wunsch nach Einzigartigkeit scheint zum Greifen nahe. Jedoch wird ebenso das Gefühl von Zusammengehörigkeit, das die Ideologie auch immer zu leisten vermag, kreiert. Internet kann in dieser Betrachtung auch selbst zur Ideologie verkommen bzw. wird es wohl von einigen Unwissenden als solche verteufelt! Doch in dieser globalen Plattform der Einzigartigkeit gibt es zunehmend eben auch Angleichungen, so dass die Gefahr globaler Ideologien nicht gebannt ist und sie ggf.,  mit größerer Verbreitungsmöglichkeit durchzusetzen sind.

Nicht zu vergessen ist dabei, dass das Internet durch seinen dokumentarischen  Charakter die Möglichkeit einer umfassenden Aufklärung gibt. Denn das Internet funktioniert als Gedächtnis und liefert dadurch Wissen. Auf der anderen Seite stellt das Internet auch eine Supermall der Ideen dar, in der man sich allzu schnell verlieren kann bzw. isoliert die Bestätigung seiner eigenen Welt findet. Eine inhaltliche Abkopplung von der realen Welt im Internet ist ungleich einfacher als einer inhaltlichen Diskussion in der realen Welt aus dem Weg zu gehen. Das Internet gibt die Möglichkeit einer Parallelwelt, die in sich wiederrum geschlossen ist. Es ist nicht nur das Medium der Aufklärung, auch potentiell das Medium der Ideologieverfestigung. Analog dazu ist der Vorteil des Internets eine Entkörperlichung, die eine pragmatische Herangehensweise, ohne emotionale Beladungen, ermöglichen kann. Persönliche Animositäten, Unsicherheiten können konstruktive Debatten verhindern, so dass eine transhumane Welt optional erscheint. Gleichzeitig gilt jedoch auch das Gegenteilige, wie die Mailinglisten zeigen – so dass sich vermuten lässt, dass körperliche Barrieren scheinbar Anstand schaffen. Natürlich muss man immer die Medien, die das Internet nutzen, unterscheiden, in diesem Beitrag geht es eher um Tendenzen, Vorstellungen und Ansätze. Grundsätzlich gilt die Frage nach der Herausarbeitung von Werten, abseits einer geschlossenen Gesamtideologie, denn erst Werte ermöglichen eine Gemeinschaft. Jedoch ist eine immaterielle Wertschöpfung ohne transzendenten bzw. sinnstiftenden Bezug sehr schwer und anspruchsvoll. Auch hier gilt, dass ein politischer Anspruch mit der Herausarbeitung von Mechanismen verbunden sein muss, die Werte schaffen.

Ein weiterer Punkt, der als Gefahren für die Ideologien bzw. als Befreiung funktionieren kann ist der zwanghafte Transparenzcharakter des Internets: Alles wir gespeichert, alles ist erfahrbar, alles ist herausfindbar. Wissen wird gespeichert, konzentriert, gefiltert, kritisch hinterfragt und ausgewertet. Die Welt wird sowohl kleiner, als auch größer, die Zeit weniger, als auch mehr. Das Wissen ist so vielfältig und zugänglich wie nie und da alles mit einer erhöhten Beschleunigung. Schneller, größer, besser?

Literaturempfehlung:
Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht (1951)
Ralf Dahrendorf, Versuchungen der Unfreiheit (2006)
Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter (2010)