Anders und Amy

Dieses Jahr hat einen neuen Höhepunkt. Mal wieder. Neben der Wahnsinnstat des rechtsradikalen Anders Breivik wurde Amy Winehouse tot aufgefunden. Sie hat sich final der Finsternis zugewandt. Und auch wenn auf Twitter ausgewiesene Terrorexperten keinen Zusammenhang zwischen diesen beiden tragischen Ereignissen sehen, so möchte ich an dieser Stelle doch einen herstellen. Dieser könnte trivialer nicht sein, doch trotzdem möchte ich ihn erläutern.

Über das Wesen des Menschen wurde viel geschrieben und gesagt, über seine Biologie, seine natürliche Rolle und die Entfremdung in der Moderne. Vieles davon ist Blödsinn, vieles davon gefährlich, jedoch gibt es einige Aspekte deren Gehalt durchaus valide ist – falls es eine anthropologische Grundkonstante gibt, dann die der Sinnstiftung. Das bedeutet in erster Linie, um mit Voeglin zu sprechen, dass der Mensch seine Existenz in einer höheren Ordnung zu erklären sucht. Äußern tut sich das zum Einen in der Sehnsucht nach Einzigartigkeit, also dem Herausstechen aus der Masse, und dem Wunsch nach funktionaler Integrität in der Gesellschaft, was wiederrum auch dem Bedürfnis nach Einzigartigkeit dient, also dem Untergehen in der Masse. Eben deswegen ist der monotheistische Gott eine geniale Erfindung: Denn die Liebe gilt zunächst dem Einzelnen und macht ihn entsprechend zu etwas Besonderem, gleichzeitig jedoch stiftet eben dieser Gott mit dem Dogma der Nächstenliebe eine absolut niederschwellige Integration – die Menschen sind meine Geschwister, deswegen bin ich ihnen wichtig und sie mir. Einfach so.

Doch ist Gott in der modernen Gesellschaft nicht mehr relevant – ja, er wird verteufelt und für die Greueltaten von Irren zur Verantwortung gezogen. Doch die hinterlassene Lücke ist nicht geschlossen, vielmehr wird versucht mit trockenen Tüchern, wie dem Nationalsozialismus oder Kommunismus, die Löcher zu stopfen – vergeblich, ja fatal.

Mit der Dekonstruktion auch dieser säkularen Religionen bleibt nur das Individuum, der radikale Subjektivismus – die Innerlichkeit als objektiver Maßstab, wie es Sennett ausführt.  Und dieses Individuum braucht eine Funktion in der Gesellschaft, eine Rolle – die gesellschaftliche Anerkennung, wie auch immer geartet, mit sich bringt. Diese gesuchte Funktion definiert dann, je nach Grad der Radikalität, auch das Maß an vermeintlicher Individualität in einer durchindividualisierten Gesellschaft. Doch nicht nur sucht der Einzelne diese Pole zu verbinden – auch die Struktur unserer Gesellschaft verlangt nach immer extremeren Formen des Individualismus, denn nur unter diesen Umständen ist es möglich breite Anerkennung in der Massengesellschaft zu erlangen. Am einfachsten geht das mit Massenmord oder dem Erfüllen einer zu erwartenden Tragödie bzw. dem Erfüllen einer von der Gesellschaft vorgefertigten Rolle. Und hier zeigt sich die Verbindung zwischen zwei Menschen, die das eigene Leben und das Leben anderer bereit waren zu opfern für die finale Anerkennung der Gesellschaft.

Breivik selbst stilisiert sich zum Held, referiert auf anerkannte Anti-Islamisten und stellte sich in eine, erschreckender Weise anerkannte, Tradition der Modernenkritik. [In kurz: Mimimimi, alle Menschen sollen gleich sein, mimimi, Teilen ist scheiße, mimimimi, ich will aber Sklaven, mimimi, klare Strukturen sind aber weniger anstrengend als Freiheit, mimimi, meine Eltern haben mich unterdrückt und ich soll nicht mal schwächere unterdrücken dürfen! (+ im Fall Breivik: Mimimi, ich kriege keine gute Frau ab, deswegen hasse ich sie jetzt alle!)] Er brach aus Idealismus das Gesetz (nicht nur das weltliche, auch das moralische!) und rechtfertigte das mit der Rettung Europas – damit liefert er Material zum empören, bewundern, ereifern und verurteilen; zum bestätigt-fühlen in den eigenen Voruteilen, zum analysieren der Gesellschaft, kurz: ein sinnstiftendes Ereignis, an dem die maximale Anzahl an Menschen partizipieren. Es ist kein Zufall, dass Breivik ein Manifest schrieb und ein entsprechendes Facebookprofil angelegt hatte. Anerkennung um jeden Preis durch ermöglichte Täterbeschau.

Ähnlich sieht es bei Amy Winehouse aus. Ihre Funktion: die hochbegabte, aber „troubled“ Wundermusikerin, auf deren nächsten Streich man sehnsüchtig zu warten pflegte; die Ausnahmemusikerin in einer Zeit der kulturellen Verwirrung. Vielleicht war einem Teil ihrer Person immer klar, dass sie die 27er des 21. Jahrhundert sein musste, um unsterblich zu werden? Wenig weltbekannte Musiker kannten sich mit der Musikgeschichte wohl so gut aus wie Amy Winehouse – dass sie in ihren Texten eben diesen Fatalismus immer wieder aufgriff, ist keine Überraschung. Über ihr Talent und ihre Probleme war so ausführlich berichtet worden, sie selbst soweit historisiert worden – erfolgreiches Warten auf Godot.

Die Rolle des Künstlers hängt eng mit der Rolle des Wahnsinnigen zusammen – beide werden abseits der Gesellschaft gedacht. Sie werden exkludiert und können nur durch das Überwinden der Eigenschaften, die sie für die Gesellschaft abnormal werden lassen, zurück in die Gesellschaft integriert werden. Rehabilitation. Der Anreiz verschwindet jedoch, wenn der Preis für die Rehabilitation Degradierung ins Normale, Triviale bedeutet, die Radikalisierung des Abnormalen jedoch zum Heiligen durch Sublimierung führt. So erfüllen sie ihre Rolle: Der Gesellschaft ihre eigene Normalität predigen und ihr sich gleichzeitig vergewissen lassen, wie normal sie doch wirklich zu sein glaubt.

Der Künstler und der Anti-Held könnten an dieser Stelle kaum mehr betören, faszinieren – spiegeln sie doch die eigene Sehnsucht nach Anerkennung und Normalität im umfassenden Spannungsverhältnis wider. Und genau deswegen haben wir diese Funktionen geschaffen. Die Ironie daran: Im Streben nach der Einzigartigkeit rutschten Amy und Anders in vorgefertigte Funktionen, die eigentlich trivial und austauschbar sind.