Internet und Identität

Denn nicht wir wissen, es ist allererst ein Zustand unsrer, welcher weiß.
Heinrich von Kleist, Kleist

Was ist eigentlich das Ich? Glaubt man der Wissenschaft, was ja nicht mehr alle zu pflegen tun, so ist eine Ich-Identität das Konglomerat aus Erinnerung, Reflexion und sozialen Bindungen, eine „symbolische Einheit“ (Habermas), die mir eine Orientierungslinie, eine Struktur gibt, mit der ich wiederum meine Einzigartigkeit im gesellschaftlichen Kontext herzustellen vermöge, um mir schließlich eine Realitätssicherung vorzugaukeln, kurz: Ich brauche/braucht eine Identität um ein Ich zu haben/sein. Nun ist es zum einen notwendig wie schwierig eine derartige Identität zu finden und zu schaffen, schließlich muss man sich unangenehmen Fragen und darauf folgenden Konsequenzen stellen: Wen oder was mag ich? Was will ich? Wen oder was will ich nicht? Was will ich erreichen? Was nicht? Und warum das alles eigentlich? Grundlegend ergibt sich nun das Problem, dass ich meine Einzigartigkeit, ja dass der Mensch seine Einzigartigkeit, immer und immer wieder bestätigt und gesagt bekommen möchte. (Deswegen soll es Menschen geben, die starke Eifersucht als Ausdruck von Liebe bezeichnen – im Endeffekt wird hier nur die vermeintliche Einzigartigkeit für den Gegenüber geschätzt. Man liebt, dass der andere einen liebt.) Diese kann ich mir nun durch eine transzendentale Idee (zum Beispiel Gott, oder wahlweise auch das Universum), eine Funktion in der Gesellschaft (zum Beispiel Lena-sein) oder eine eigene Identität schaffen – idealer Weise sind die anderen Möglichkeiten mit einer eigenen Identität unterfüttert. Für das Erschaffen einer Identität muss ich jedoch grundlegend verstehen, dass alles subjektiv ist, eine Weltformel nicht existiert und ich alles konstruieren kann, was ich konstruieren möchte.

Hier liegt nun die Verbindungsstelle zum Internet, dass diesen freien, flüssigen Charakter der Welt manifestiert. Jeder kann plötzlich sein, was er will, jeder kann sich konstruieren wie er das möchte – unangenehme Auswüchse davon hat jeder schon einmal erfahren, der sich bei einer Partnerbörse eingetragen hat. Doch nichtsdestotrotz ermöglicht das Internet eine freiere und ehrlichere, eben weil offen konstruiert und künstlich, Identitätsentwicklung. Hier liegt nicht zuletzt der Grund für einen Angststrang rückständig und übertrieben konservativ denkender Menschen, die ohne eindeutige Schubladen die Orientierung verlieren.

Darüber hinaus stellt das Internet noch eine weitere gefühlte Bedrohung für die geliebte und angestrebte Einzigartigkeit dar, denn plötzlich bin ich gar nicht mehr so einzigartig, wird doch deutlich, dass noch sehr viele andere Menschen auf diesem Planeten denken, fühlen, leben und rebellieren wie ich. Da beginnt das eine oder andere, wenn auch vermeintlich negative, Selbstbild, das sich über Anders und Außenseiter sein definiert, zu bröckeln. Das Internet zeigt uns nämlich eindrucksvoll: Wir sind doch alle gleich! Mir persönlich gibt das Freude – habe ich mein dezentes Außenseiterdasein (ich bin weder sonderlich hochbegabt, noch ein authistisch-kongenialer Super-Technik-Nerd, sondern nur ein kritischer Denker, was schon für das außerhalb der Gesellschaft stehen reicht) immer nur bedingt gemocht, ja gepflegt habe ich es und ausgebaut, aber nur bedingt gemocht, frei nach dem Gedanken: Nötiger Angriff ist die tugendhafteste Verteidigung. Und so fühle ich mich wohl in den Sphären des Netzes, freu mich, wenn ich Gleichgesinnte, Mitleidende und ähnlich oder gar gleich Denkende treffe – es beruhigt mich, gibt mir Kraft und Hoffnung, dass wir diese Welt doch ordentlich organisiert kriegen.

Und so wird meine geglaubte Einzigartigkeit vermeintlich genommen, aber ich gewinne Vertrauen, in kollektive Intelligenz, und die Hoffnung besteht, dass wir eine falsche Fixierung auf das eigene Ich überwinden, was schon, mir eigentlich zuwiderlaufend, weil hip und trendy, buddhistisch anmutet. Denn erst wenn ich mir meiner eigenen Unwichtigkeit, meiner Austauschbarkeit bewusst werde, kann ich ein autonomes Ich konstruieren, unabhängig von der Konstruktionsleistung anderer, die mich erschaffen kann oder soll. Bei Fight Club heißt das, den Nullpunkt erreichen, wobei ich dann doch denken und reflektieren der Säure vorziehe.

Das Internet gibt uns die Möglichkeit zu einer neuen Kollektivierung. Nein, es drängt uns gerade zu einer neuen Kollektivierung. Eine die, mal wieder, deutlich macht, dass jeder Mensch doch irgendwie entbehrlich ist – und das ist eine gefährliche Erkenntnis, die viel Verantwortungsbewusstsein braucht. Und das Bekenntnis zu den Menschenrechten, auch ohne transzendentale Legitimation.

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