Freiheit und Masse

„Es ist die Masse allein, in der der Mensch von dieser Berührungsfurcht erlöst werden kann. Sie ist die einzige Situation, in der diese Furcht in ihr Gegenteil umschlägt. Es ist die dichte Masse, die man dazu braucht, in der Körper an Körper drängt, dicht auch in ihrer seelischen Verfassung, nämlich so, daß man nicht darauf achtet, wer es ist, der einen >bedrängt<. Sobald man sich der Masse einmal überlassen hat, fürchtet man ihre Berührung nicht. In ihrem idealen Fall sind sich alle gleich. Keine Verschiedenheit zählt, nicht einmal die der Geschlechter. Wer immer einen bedrängt ist das gleiche wie man selbst. Man spürt ihn, wie man sich selber spürt. Es geht dann alles plötzlich wie innerhalb eines Körpers vor sich.“ (Elias Canetti – Masse und Macht)

Sich in der Masse zu verlieren, kennen wir wohl alle – sei es auf einem Konzert, auf einem Sportereignis oder beim Schunkeln in der Mitte eines Volksfestes. Ob diese Erlebnisse für den einzelnen angenehm oder nicht sind, bleibt demjenigen überlassen. Mich befremdeten diese Massenerlebnisse zumeist, neigt mein Charakter doch wohl zu sehr zur Darstellungs- und Geltungssucht, als dass ich mich als Massenmolekül unterordnen könnte. Schließlich darf die Außergewöhnlichkeit meines Charakters niemals in der Rauheit der Masse verloren gehen! Das wäre ja skandalös!

Der eitle Wunsch nach Einzigartigkeit, die Sehnsucht danach die Verehrung der Welt zu spüren, kommen auch hier wieder zum Tragen. Doch Einzigartigkeit bringt Verantwortung, denn das Handeln, das Leben und Entscheiden steht immer unter besonderer Beobachtung, unter Kontrolle derer, die einen zu der Einzigartigkeit verhelfen, die man anstrebt, der man sich verpflichtet und opfert. Auch sind die Erwartungen, die in einen gesetzt werden, viel höher, ja un(er)tragbarer und einfassender, als wenn man sich der Masse hingibt. Versteckt hinter der pseudo-intellektuellen Angst vor der Macht der Masse, wird die Angst vor der eigenen Bedeutungslosigkeit deutlich – die Masse macht mich zu einer Qualle und raubt mir die mühsam erkämpfte Individualität und Freiheit. Doch tut sie das wirklich?

Mehr und mehr lerne ich das Untertauchen in der Masse zu schätzen; wird meine Nichtigkeit doch manifestiert, mir vor Augen geführt, so dass ich erwachsen kann aus der Asche der Belanglosigkeit. Erst die Einreihung meines eigenen Schicksals in den Lauf der Menschheit gibt mir die Möglichkeit mich von mir zu distanzieren, meinen eigenen (Welt-)Schmerz in Relation zu sehen, ihn zu schwächen, mich von ihm zu befreien. Im Untergehen in der Masse liegt die Chance mich frei zu bewegen – unauffällig, distanziert und eigenständig. Denn wenn niemanden interessiert was ich tue, kann ich tun was ich will.

Und so stand ich gestern also am Bonner Bahnhof um nach Ratingen-Ost zu fahren und plötzlich fuhren keine Züge mehr aus Bonn heraus – Selbstmord. Dank dieser egoistischen Art sich das Leben zu nehmen waberte nun also eine aufgeheizte Masse durch die Hallen des Bonner Bahnhofs und wusste nicht weiter – ebenso wie meine Wenigkeit. Und was geschah? Ich sehnte mich nach dem Rausch bzw. setzte die plötzliche Freiheit mir den Wunsch nach oder die Angst vor dem rauschvollen Abend in den Kopf. Doch ich folgte der Masse, nutze die S-Bahn und blieb rauschfrei.