Sich am Weltgeschehen verschlucken

Auch diese Woche gibt es wieder ein neues Kapitel! Diesmal geht es um Revolutionen und so 😉 Und @herrurbach schrieb auch viel!

Sich am Weltgeschehen verschlucken

tl;dr: Das Internet bringt die ganze Welt in mein Wohnzimmer, Elend und Ungerechtigkeit inklusive. Bin ich dafür verantwortlich, wenn im Nahen Osten gemordet wird oder ob es in der äußersten Mongolei Demokratie gibt? ­Niemand kann überall gleichzeitig sein, und es ist in Ordnung, mit der politischen Arbeit im eigenen Land zu beginnen. Aber ich kann ­zumindest für die Freiheit und Anonymität des Netzes eintreten. Für alle, überall.
{{Kommentar Stephan Urbach: Wir können für all diese Dinge eintreten – aber wir müssen aufpassen, nicht selbst daran zu Grunde zu gehen, denn das Elend der Welt wird nicht mehr in Häppchen über die Nachrichten präsentiert, sondern im Livestream. Wir bekommen nicht mehr bloß die abstrakten Zahlen, im Zweifel können wir jeden einzelnen Bombentoten beim Sterben beobachten.}}
Revolution. Es ist so weit. Die News-Ticker flippen aus. Revolution im Nahen Osten. Erst Tunesien, dann Ägypten, jetzt Juntos Heimat. Mortensen ist seit ­Stunden damit beschäftigt, die Internetversorgung für die Demokratisierungsbewegung sicherzustellen, denn Juntos Regierung sabotiert das Netz.

Der Bildschirmrand flackert, das Autorisierungsfeld öffnet sich. Ach, SPAM, denke ich und klicke aus Langeweile auf das Profil. Normalerweise steht da etwas in kyrillischen Buchstaben, oftmals in Kombination mit lateinischen Buchstabenfolgen wie sexyGirl1993. Diesmal nicht. Diesmal ist es Junto. Mein Atem stockt. Er hat seinen Rechner und alle Accounts neu aufgesetzt. Mortensens Plan ist also aufgegangen. Ich hatte seit dem letzten Chat nichts mehr gehört, nur Mortensen hatte berichtet, dass es Junto gut gehe. Soweit das überhaupt möglich ist. Denn das Internet spricht anderes, von Mord und Folter, von Gewalt und Verhaftungen.
Junto schreibt: In diesen Zeiten sind wir alle Familie. Menschen. Vergesst das nicht. Das Blut unschuldiger Menschen. Unser Blut.{{Kommentar Stephan Urbach: Viele solcher Geschichten stehen im Internet. Sie sind Zeugnis einer Generation von Menschen, die für ihre Träume und Ideale einer freien Welt aufgestanden sind und sich gegen Diktatoren gewandt haben. Ihre Diktatoren. Zu oft wurde und werden Proteste mit Waffen seitens der Machthaber beantwortet. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir in Europa solche Zeilen in das Netz schreiben, weil Polizei und Militär anfangen, diejenigen, die sich für eine freiere Welt einsetzen und dafür auf die Straße gehen, zusammenzuknüppeln oder gar zu erschießen.}} Die Tränen der Eltern, der Freunde und Liebsten. Vergesst das nicht. Vergesst unsere Geschichten nicht. Bitte.

Erstarrt blicke ich auf die Zeilen. Was kann ich tun? Kann ich etwas tun? Während mir Tränen die Wangen herunterlaufen, weiß ich nicht, wie ich reagieren soll. Was soll ich ihm sagen? Wie kann ich ihm Mut machen? Ich sitze Tausende Kilometer entfernt, habe keinen Einfluss auf die politischen oder gar militärischen Entscheidungen des Westens. Soll der Westen überhaupt eingreifen?

Was in Juntos Heimat passiert, grenzt an staatlichen Massenmord. Oder ist ­einer. Ich weiß es nicht.

Ich spüre, dass mich das etwas angeht, und habe Angst um Junto – und doch stehe ich in seltsamer Distanz zu dem, was er schreibt. {{Kommentar Stephan Urbach: Diese seltsame Distanz vermischt sich mit der Unfähigkeit, etwas direkt zu tun. Es ist nicht schön, aber man gewöhnt sich (nie) daran.}}

Einerseits bin ich froh, von ihm zu hören, andererseits fühle ich mich so schlecht und hilflos, dass ich einen Moment lang wütend auf ihn werde. Wieso setzt er mich dem aus? Oder vielmehr das Internet. Ich sitze ohnmächtig vor dem Bildschirm, bin mitten im Geschehen, ohne etwas tun zu können.
Junto schreibt weiter über seine Hoffnung und den Willen, für Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit zu kämpfen. Er glaubt daran, dass wir eine gerechte und freie Welt schaffen können. Er spricht davon, dass er den Sieg für die gute Sache vielleicht nicht mehr er­leben wird. Ich beginne zu schluchzen. Zum Glück sieht 
mich Junto so nicht. Er würde versuchen, mich zu trös­ten. Das wäre mir peinlich. So kann ich ihm sagen, dass er für das Richtige kämpft. Und dass ich ihn bewundere. Von meinem Schreibtisch aus kann ich ihn in seinem Mut bestärken, den ich selbst kaum hätte.
Traurig und aggressiv klappe ich den Rechner zu. Vor meinem geistigen Auge erscheinen Fernsehbilder von verhungernden Kindern, die mit großen Augen und aufgeblähten Bäuchen in die Kamera blicken. Die Bilder aus den KZs mit den ausgemergelten Leichen. Ich denke an das Essen, das wir täglich wegwerfen, die Stunden, die ich vor Monitoren verbringe, die kleinen Probleme und Streitigkeiten über hellblauen Lidschatten und Altersbeschränkung bei Bobbycars. An die Menschen, die auf dieser Welt schuften, damit ich für 39,90 eine Digitalkamera erwerben kann.
Ein Rat versammelt sich in meinem Kopf, besetzt mit Karl Marx, Ulrike Meinhof, Theodor Adorno, Marie Antoinette, Ralf Dahrendorf, Hannah Arendt, Max Weber, meinen Eltern (wobei Vater von der Unmöglichkeit des Kommunismus spricht und Mutter von der Devise, jeder Mensch sei so, wie er ist, in Ordnung). Friedrich Nietzsche, Kurt Schumacher und Konrad Adenauer sind auch dabei, und sie streiten. Über Sinn und Unsinn der Marktwirtschaft, über die menschliche Natur und die Durchsetzbarkeit von Idea­len, über Moral und das gute Leben. Einige schreien, andere weisen darauf hin, dass wütende Menschen nicht denken, was Marie Antoinette mit einem süffisanten »Ist doch egal!« beantwortet. Hitler und Stalin habe ich heute mal ausgeladen. Ebenso Hegel. Mich überkommt ein bebendes Bedürfnis, diese Welt zu verändern, radikal, jetzt. Ich klappe den Rechner wieder auf.
Junto ist weg. Ich habe mich nicht von ihm verabschiedet.
Stattdessen huschen am linken Bildschirmrand die Nachrichten des Tages vorbei. Irgendein Popstar ist gestorben. Und es gab eine Flutkatastrophe mit ein paar hundert Toten in Afrika. Ein Maßnahmenplan gegen den Klimawandel ist geplatzt. Ich kann der Bombardierung einer Stadt in Libyen per Stream zuschauen. Im Zoo von Pjöngjang ist ein Kamel gestorben, ein Panther hat es gefressen. Das YouTube-Video wird wieder und wieder im Fernsehen gezeigt.
Das digitale Zeitalter vernetzt uns mit dem Rest der Welt. Elend und Not sind noch viel mehr Teil von mir, als sie es im Zeitalter des Fernsehens waren. Jeden Tag prasselt der wahre Zustand dieser Welt auf mich ein, erdrückt mich mit der Forderung nach ­Verantwortung, danach, mein Leben anders zu gestalten, alle Leben anders zu gestalten. Jeden Tag lese ich von Ausbeutung und Machtmissbrauch ­irgendwo auf der Welt, von Menschen, die leiden, von korrupten Regierungen, Kriegstreibern, Waffenhändlern, gierigen Konzernen und Superreichen. Ich lese über irrelevante Promis und Abnehmtipps, über Geldvernichtung und andere absurde Auswüchse menschlicher Kultur, und ich fühle mich schäbig. Jeden Tag versuche ich zu handeln. ­Jeden Tag scheitere ich. Mein Leben ist durchzogen von Inkon­sequenz, dauernd lebe ich im Widerspruch dazu, dass ich es besser weiß oder wissen müsste, als ich tatsäch­lich handle. Es gibt kein konsequentes Leben im falschen.
Das Internet transportiert die ganze Spannweite menschlichen Seins und der Antworten auf dieses Elend – und trotzdem wird mir ständig bewusst, dass wir nichts gegen die Missstände tun können. Es gäbe so vieles besser zu machen. Aber wo anfangen? Bei uns, die wir selbst genug damit zu tun haben, das Leben zu meistern? Überfordert von eigenen Problemen, werden wir von den Problemen der anderen weiter in den moralischen Abgrund gezogen. Und doch: Kann man jemandem vorwerfen, kein Elend erlebt zu haben? Leid nur aus der Betrachtung zu kennen?
Wieder eine Petition. Seit es die Petition gegen Netzsperren geschafft hat, viele Unterschriften zu sammeln, trudeln jede Woche neue ein. Mit einem Klick rette ich die Welt, das ist die Absicht. Klicken für Ideen, für Protest. Es gibt inzwischen massenhaft Politklicker. Sofa-Aktivisten. Ist es tatsächlich eine Verbesserung, wenn sich Menschen so populistisch und oberflächlich mit den Problemen in Afrika beschäftigen? Zufällig geraten wir auf eine Seite im Netz, werden Zeuge, wie Kinder sterben, weil sie am falschen Ort geboren wurden. Wir sehen ihnen dabei zu. Wir filmen sie, stellen sie aus. Und die werbefinanzierten Portale ziehen daraus Profit, je mehr wir klicken, desto mehr. Wir beobachten, ohne uns ernsthaft dem zu stellen, was zu diesem unnötigen Leid und Elend führt. Gefällt mir, gefällt mir nicht.
Die neuen Kommunikationsformen überwinden die Distanzen und bringen uns jeden Ort der Welt ins Wohnzimmer. Doch bringen sie uns dadurch Nähe? Macht es mich nicht einfach nur sinnlos betroffen?
»Du musst dir deiner Begrenztheit bewusst werden. Dann kannst du auch andere akzeptieren, weil sie andere Fähigkeiten und Kompetenzen in ihrer Begrenztheit haben.« Diese Worte finde ich in einem Interview mit Vilem Flusser. Er spricht von Demut und dass ich nicht dafür verantwortlich bin, »ob in der äußeren Mongolei Demokratie eingeführt wird oder nicht«. Mir gefällt das, auch wenn es unbefriedigend ist. Denn Flusser hat recht, wenn er sagt, dass die Ethik des Konkreten im End­effekt wie Nationalismus ist, denn sie bezieht sich nur auf das Unmittelbare in meiner Umgebung. Auch wenn diese Umgebung virtuell ist.
Trotzdem gibt es auch bei uns moderne Helden. Echte Aktivisten, die ihre Arbeit den Veränderungen widmen, die vom Sofa aufstehen. So wie Mortensen. Kleinkriminelle Freunde zeigten ihm, wie man digitale Sicherungssysteme knackt. Kleine Jungs – der größte Feind der CIA im digitalen Zeitalter. So wurde aus Mortensen ein Hacker. Und das Hacken gab ihm den Glauben daran, etwas bewegen zu können, zurück. Hacken ist eine Philosophie radikal eigenverantwortlichen, regelbrechenden Handelns. Mortensen lernte, »die Welt« zu programmieren. Er lernte, Einfluss zu haben. Seit er allerdings öffentlich über das spricht, was er tut, häuft sich der Hass gegen ihn. Inzwischen hat Mortensen ein paar Nachrichtendienste gegen sich. Es bleibt nicht ohne Folgen, wenn man Rebellen unterstützt und ihnen erklärt, wie sie sich der staatlichen Observation entledigen können. Und so anonymisiert Mortensen zunehmend sein eigenes Leben. Doch Datenschutz konsequent zu leben erfordert heute große Hingabe.
Wie man sich im Netz mehr oder minder unerkannt bewegt? Ist gar nicht so einfach!
(Es folgt: eine Anleitung) {{Kommentar Stephan Urbach: Es gibt Hunderte solcher Anleitungen. Sie alle sind wichtig, denn Teile daraus kann jeder Mensch für sein eigenes Handeln im Netz verwenden. Kommt aber auch darauf an, wo auf der Skala zwischen Paranoia und Offenheit man sich befindet.}}
Schecks und Kartenzahlung sind tabu, alle Zahlungen müssen bar getätigt werden. Keine Briefe und Post an die tatsächliche Adresse. Generell darf die Adresse nicht notiert sein. Auch nicht beim Meldeamt. Damit ist bereits die Grenze des Legalen überschritten.
Dann: Verschlüsselung ist das Herz eines datenschutzbewussten Lebens. Verschlüssle alle Verbindungen, die du aufbaust. Gib nie dein Geburtsdatum an, denn viele Datensätze, vor allem in Behörden, sind darüber zugänglich. Passwörter müssen individualisiert und regelmäßig geändert werden. Sie bestehen idealerweise aus circa 30 Sonderzeichen. Das Netz kann nur eingeschränkt genutzt werden. Nach jeder Reise und jedem Scan durch die Sicherheitssysteme etwa am Flughafen ist ein neuer Laptop notwendig, denn es werden nicht selten Spionageprogramme bei solchen Sicherheitskontrollen installiert. Ohne dein Wissen.
Alles muss über Proxys laufen, Zwischenstellen, die den Ursprung der Daten verschleiern. So funktioniert beispielsweise »TOR«. TOR steht für The Onion Router: Wie bei einer Zwiebel gibt es mehrere Verschlüsselungsschichten, die mehr oder minder unabhängig voneinander sind. Zumindest so unabhängig, dass sie einzeln ver- und entschlüsselt werden müssen. Im Grunde genommen funktioniert es wie Stille Post in der Schule. Zettelchen werden weiter- und zurückgegeben, und jeder kennt nur das unmittelbare Ziel und seine direkten Vorgänger. Ein Proxy unterbricht den Datenfluss, schaltet sich dazwischen und führt die Observatoren damit in die Irre. Damit TOR effektiv funktionieren kann, muss es viele Knotenpunkte geben. Jeder, der einen Proxy auf dem eigenen Rechner laufen lässt, leistet digitale Solidarität, mit den Menschen, die Sperren und Einschränkungen in ihren Ländern umgehen können.
Man schenkt diesen Menschen quasi einen Tarnumhang. Das ist eine Art, dazu beizutragen, dass Menschen anonym und frei kommunizieren können. Frei von sozialem Druck und Mehrheitsterror.
Anonymität bringt aber auch Herausforderungen mit sich, vor allem bezüglich der Umgangsformen. Wüste Beschimpfungen und Unterstellungen, Drohungen und sexuelle Belästigung äußern sich im Schutz der Anonymität ungehemmter. Ein Preis, den ich gerne für freie Meinungsäußerung zu zahlen bereit bin. Denn noch nie lag uns das, was die Menschen wirklich denken, so detailliert dokumentiert vor. Deswegen unterstütze ich auch, dass Mortensen nicht unterscheidet zwischen guten und bösen Nutzern anonymer Kommunikation, die vielmehr ein Grundrecht ist. In Gut und Böse einteilen, das geht nur mit Überwachung der Nutzer und ihrer Datenströme. Anonymität ist aber eben die Abwesenheit von Überwachung. Wie viel Anonymität eine Gesellschaft braucht? {{Kommentar Stephan Urbach: Die Freiheit einer Gesellschaft muss sich immer an der Freiheit ihrer Netze messen lassen.}}

Viel.

Mortensen braucht TOR jedes Jahr, das ich ihn kenne, ein bisschen mehr. Es wird immer gefährlicher für ihn, im Netz zu agieren. Warum er es trotzdem tut? Das fragt er sich auch. {{Kommentar Claudia Schramm: Was weiß ich schon von dieser Welt, in der mit einer unglaublichen Macht gelebt wird. Ich bin ganz schön naiv.}}