Geschlossene Gesellschaft

Wir haben zur Zeit ja Sommerpause. Auch auf diesem Blog … oder so. Also poste ich mal eine alte Geschichte, die ich vor circa 4 Jahren geschrieben habe. Bitte behaltet das im Kopf

Das stumpfe, monotone Rattern der S-Bahn fiel ihr schwer zu ertragen, geradezu beängstigend dröhnte es in ihren Ohren. Das graue Lederimitat, auf welchem sie saß, war schlecht verarbeitet, der Faden trug die Farbe des ortsansässigen Süßwarenmagnaten und ab und an stießen die unangenehmen Sitze Hitzestöße aus, die sie furchtbar schwitzen ließen, zumindest dachte sie dies. Denn eigentlich konnte sie nicht mehr schwitzen. Das graue Schaumstoffutter saugte ihre Ausdünstungen auf, wie es das vermutlich immer schon getan hatte. Ein leichtes Unwohlgefühl durchfuhr ihre steifen Glieder und sie musste bei dem Gedanken an die Verschmelzung ihrer Körperflüssigkeiten mit denen anderer fluchen wollen, hier sitzen zu müssen. Die Abdrücke auf den beiden gegenüberliegenden Plätzen änderten die Größe, die Form, blieben und lösten sich langsam und weich auf, und die Tatsache, dass sie nichts daran ändern konnte, ließ sie nicht aufhören zwanghaft dieses trostlose Phänomen zu analysieren. Was sollte sie auch anderes tun. Ihren Kopf konnte sie nicht drehen und wenden und auch wenn sie es gewollt hätte, so wäre es nicht möglich gewesen. Leider konnte sie auch niemanden fragen, ob er ihren Kopf zur Fensterseite hätte drehen können, da sie niemanden hätte ansprechen können. So starrte sie also, mehr oder minder über die Tatsache ernüchtert, dass niemand dafür Interesse zu zeigen schien, dass sie ihren Kopf stur in einem 60° Winkel halten musste, und das auch tat. Ihre Straßenköter-blonden Haare beugten sich der unschönen Haltung, was zusätzlich ihre Laune verdarb. An den Ecken ihrer Sichtfelder markierten grau schimmernde Stangen ihr Revier und an jeder Station gaben sie ein leichtes, eintöniges Bimmeln von sich, welches das Öffnen der Schiebetüren signalisierte.

Massen strömten aus, Massen strömten ein, Köpfe und Gesichter konnte sie selten erblicken. Sie hasste sich ein klein bisschen dafür, schließlich war sie nicht unschuldig an der Situation, in der sie sich jetzt arrangieren musste, mit sich, den 60° und vielen anderen, merkwürdigen Tatsachen.

So verhielt es sich auch mit Anne-Sophie und Anna-Maria, deren Anwesenheit sie hasste, aber nicht ändern konnte. Weder in der misslichen Lage in der sie sich gerade befand, noch sonst irgendwann. Während Anne-Sophie eine schrecklich pathetische und anstrengende Person war, die dauernd über den Weltfrieden oder einen unbekannten Menschen und sein Buch reden musste, predigte Anna-Maria den Weltuntergang dank unserer Sünden. Sie verzichtete auf Sex vor der Ehe, auf Alkohol, auf Spaß und das Leben an sich. Stattdessen widmete sie ihr Leben dem Jammern über die Welt als Sündenpfuhl.

Das alles wurde durch ständiges Reden und zwischenzeitliches Weinen sorgfältig ergänzt. In dem Moment in dem sie dies dachte, brüllte Anne-Sophie: „Wusstest du eigentlich, dass die Wahlen in Uruguaynesien schon wieder manipuliert worden sind? Das ist wirklich ein Skandal und die westlich zivilisierten Länder, so wie sie sich selbst nennen, machen ihre Geschäfte mit den Machthabern, während sie Demokratie und Freiheit fordern. Das ist perfide. Diese Menschen werden unmündig gehalten….“

Ab diesem Punkt versuchte sie wieder krampfhaft nicht zuzuhören, da Anne-Sophie ständig und energisch von solchen Themen sprach. Sie hatte sich antrainiert nicht weiter zuhören zu müssen. Doch leider hatte sie am Ende ihres Vortrages eine Frage gestellt, und so hätte sie antworten müssen. Da sie aber die Frage nicht beantworten konnte, begann Anne-Sophie zu kreischen. Sie sei eine ignorante und undankbare Person, die sich nur für sich interessiere und der es egal sei, dass es Menschen auf diesem Planeten gäbe, die nicht so gesegnet seien wie sie, die Hunger und Angst leiden müssten, die froh und dankbar über ihr Leben seien und die alles dafür tun würden lediglich ein bisschen Dankbarkeit gegenüber denen zeigen zu müssen, die, für den Lebensstandard in dem sie lebten, leiden müssten. Anne-Sophie schämte sich auch nur allzu gerne für sie und ihre materialistischen und oberflächlichen Ansichten und manchmal wünschte Anne-Sophie auch, dass sie sterben solle. Doch das war leichter gesagt als getan. Denn selbst dann würde Anne-Sophie keine Ruhe geben, geschweige denn sie in Ruhe lassen können. Von wollen konnte an keinem Punkt die Rede sein. Während Anne-Sophie also so vor sich hinschrie und ihr Vorwürfe über Vorwürfe machte, verhielt sich Anna-Maria verdächtig still. Geradezu zu still. Unheimlich still.

Doch auch dieser Schein trug, denn aus heiterem Himmel begann Anna-Maria ihre schon vermisste Predigt über die heuchlerischen Angewohnheiten von Anne-Sophie, ihren Weltverbesserungsambitionen und der Scheinheiligkeit mit der sie den Müll nicht trennte.

Warum sie nicht die Gruppe der Anonymen Alkoholiker begleitete oder die Schwerbehindertengruppe. Warum sie nicht regelmäßig an den kirchlichen Demonstrationen gegen Fremdenhass, Sozialabbau und Ignoranz teilnahm. Von ihr verlangte Anna-Maria das schon lange nicht mehr, aber von Anne-Sophie, die sich regelmäßig als der Heiland präsentierte, verlangte sie eine Balance von dem was sie sagte und dem was sie tat.

So schrien die beiden also in der Bahn. Und das niemandem auffiel, dass sie stur da saß und das sie sich nicht bewegen konnte, dass machte sie zunächst kaum stutzig, denn sie kämpfte mit dem Geschrei ihrer Begleiterinnen. Wie immer.

Das Wetter schien ganz toll zu sein, soweit sie aus dem Fenster sehen konnte, schließlich war ihr Sehfeld äußerst eingeschränkt. Aber sie konnte doch die Sonnenstrahlen sehen, die sie eigentlich auf ihrer linken Gesichtshälfte hätte fühlen sollen. Solche Tage gab es selten. Es ist sonnig und der Himmel ist strahlend blau. Alles wird mit einem goldenen Schimmer überzogen und trotzdem sieht man die noch vorhandene Kälte. Die Bäume sind kahl, nur die Stämme leuchten und brechen die Sonnenstrahlen. Die Wolken ziehen wie Sternschnuppen ihren Schweif durch den Himmel und die Menschen tragen Pullover und Schal. Die Luft ist erquickend, haucht neues Leben in den Menschen und man fühlt sich lebendig. Leise zwitschern schon die ersten Vögel und ein leichter Wind braust über die Landschaft. Es riecht fruchtbar – nach Frühling und Sommer. Man will aufspringen und herum springen, weil sich alles in einem regt und erwacht. Ein goldener Schimmer überzog auch das trostlose Innenleben der U-Bahn und die graue aschfarbige Möblierung wurde von einem bunt-schimmernden Ton verzerrt.

Die grauen Massen, die bei jedem Bimmeln neu raus- bzw. einströmten, verschmolzen mit dem grauen Inventar, die fahlen Gesichter gliederten sich selbstverständlich in die öde Alltagsperipherie ein und vor jeder Haltestelle drang eine leidende Stimme aus dem Lautsprecher, die leidvoll die nächste Station anhauchte, erst auf Deutsch, dann auf Englisch. Exit on the right. Leider konnte Annabelle dieser Anweisung nicht folgen, sondern musste sich statt dessen mit Anne-Sophie und Anna-Maria auseinandersetzen. Ihr Kopf hing immer noch stur herab und langsam begann ihr Körper bestimmt kalt zu werden. Die empfohlene Körpertemperatur war garantiert unterschritten. Leider kümmerte diese Tatsache weder Anne-Sophie noch Anna-Maria. Diese hatten jetzt ihre Wut und ihr Frustration über dieses und jenes nicht mehr versucht an ihr auszulassen, sondern konzentrierten all ihre feindlichen Begrifflichkeiten aufeinander. Anne-Sophie begann plötzlich ein Lied anzustimmen, dessen Melodie den übrigen beiden gänzlich unbekannt war. Das hielt sie aber nicht davon ab lauthals zu singen und offensichtlich aufdringliche Botschaften zu verteilen:

… I am just a henchman and I am proud,
have you ever seen such a tatty cloud?
She was just right there, next to myself,
fuck your ideals, fuck yourself …

Die Botschaft war offensichtlich, aber weder Anna-Maria noch Annabelle reagierten auf diesen Versuch ihnen Vorwürfe zu machen. Anna-Maria betete währenddessen auch irgendein Ave Maria oder sonstwas, und Annabelle verstand lediglich Bruchteile, obwohl sie sich wunderte, dass sie nicht schone alle Formen kirchlicher Sprüche, Gesänge und was auch immer auswendig konnte. Jetzt dröhnte nur noch „ … ora pro nobis peccatoribus, nunc, et in hora mortis nostrae. Amen.“ in ihren Ohren.

Anna-Maria schrieb seit geraumer Zeit ihr Tagebuch auf Latein und dem Papst Liebesbriefe. Zumindest glaubte das Anne-Sophie, die vehement gegen Religion und Glauben wetterte. Opium fürs Volk! ließ sie verlauten. Die Urängste des Menschen würden gebündelt ausgenutzt. Auch das Christentum sei nicht mehr als eine Sekte. Jesus hätte sowieso mit Magdalena rumgemacht und was den Bekloppten überhaupt einfalle sich als mehr als eine Fügung der Evolution zu betrachten. Anna-Maria begann zu japsen. Ihr Kopf lief rot an und wenn sie gekonnt hätte, dann wäre sie mit lautem Gebrüll auf Anne-Sophie losgegangen und hätte sie umgebracht. Stattdessen betete sie für Anne-Sophies Sünden, und für Annabelles gleich auch, und begann dann zu erklären, dass die Bibel eine Offenbarung Gottes sei, dass sie nicht vom Affen abstamme und, besonders wichtig, dass sie zumindest in den Himmel käme, inklusive ewigen Seelenheil- gratis quasi. Annabelle hätte gerne mit ihrem kalten Kopf geschüttelt, aber statt dessen fragte sie ob es mehr Schuhe in der Hölle oder im Himmel gäbe, da sie davon doch bitte ihre Entscheidung abhängig machen wollen würde. Diese platte Diskussion sei ihr lästig, verkündete Anne-Sophie, denn diese Konfrontation von Ideologien sei doch nur ein Aufsagen von billigen Stammtischparolen, die in „Nietzsches Nihilismus ist eine Synthese“ wohl gipfeln würden. Annabelle bemerkte, dass sie lediglich an Schuhen interessiert sei und ihr herzlich egal sei, wer diese Schuhe unter welchen Umständen fertige. Damit klinkte sie sich, so gut das ging, aus der folgenden Diskussion über Haben und Sein aus und erfreute sich an den Sonnenstrahlen die sie nicht spürte. Allerdings merkte sie, dass diese bei weitem nicht mehr so hoch standen wie sie es getan hatten, als sie das letzte Mal bemerkt hatte, dass sie sie nicht fühlen konnte. Die Nacht brach unweigerlich ein und die Massen wurden zu Mässchen, und die Mässchen zu Individuen, welche auch bald verschwanden. Sie saß immer noch auf ihrem einsamen Platz und quälte sich mit den beiden Damen, die mittlerweile die gesamte europäische Kulturgeschichte diskutiert hatten und nicht daran dachten, dass Annabelle wirklich genervt war.

So saß Annabelle also dort, den Kopf im 60° Winkel, tosendes Geschrei um sie herum und eine langsam einsetzende Starre, die ihre Situation nicht gerade begünstigte. Die Nerven konnte sie schlecht verlieren, da diese wohl mittlerweile inaktiv waren. Ihr schoss in den Kopf, dass sie doch furchtbar kalt sein musste. Fühlen konnte sie das leider auch nicht. Mittlerweile stand die U-Bahn mehrere Minuten still und Annabelle fragte sich ob es sich um eine Art Nachtruhe halten könnte. Das Geschrei im Hintergrund war jetzt ein bisschen leiser geworden. Es fiel sogar noch weiter ab. Immer leiser. Stiller. Stille.

Musterhausen, 5.März

Nach einer furchtbaren Kindheit und den letzten Versuchen der Liebe,
ist unsere geliebte Tochter Annabelle-Sophie an ihrer Krankheit und ihrem Kummer verstorben.
Wir werden dich nie vergessen. Auch wenn dich keiner bemerkte.

Annabelle-Sophie von Auerberg
geboren am 2. Juli

Deine dich liebenden Eltern:
Karl-Heinz und Annemarie von Auerberg

Requiem am kommenden Mittwoch um 14:30. Wir bitten um Spenden an die Organisation Kinder-haben-ein-Recht-zu-lachen e.V. und Zivil-Courage e.V