Utopie und Feigheit

Oder: Warum ich spackeresk bin.

Ein Radikaler ist ein Mensch, der mit beiden Beinen fest in der Luft wurzelt.
(Franklin Roosevelt)

Ein Gespenst geht um in der westlichen Hemisphäre und den Ländern, die ebenso durchmodernisiert sind: Der digitale Kontrollverlust. An allen Ecken lauert er und versucht das Recht auf digitale Selbstbestimmung zu begatten. Zugegeben macht er ihr schöne blaue Augen, er stiftet trügerisches Vertrauen und gaukelt eine neutrale Funktionalität vor. Wie ein Schleier legt er sich über die Möglichkeiten und Chancen des digitalen Zeitalter und hinterlässt, was er eben so zu hinterlassen hast: Angst.

Plötzlich enstehen echte Spuren der Persönlichkeit, nachvollziehbar und oftmals erst auf den Hinweis von Bekannten oder durch das verruchte Selbst-Googlen findbar. Hat der Kampf des Datenschutzes als Abwehrrecht gegen den Staat recht erfolgreich funktioniert, ist der Kampf gegen das Gedächtnis des Internets ein Kampf gegen Windmühlen, der nicht staatlicher Natur sein darf. Der Trend sein Leben zu digitalisieren bedeutet das Private öffentlich zu machen und somit politisch. Raum für das Private ist da – jedoch nicht im Web 2.0. Surfe ich anonym, so muss ich in den zahlreichen sozialen Netzwerken der digitalen Sphäre auf eine Vernetzung mit Freunden verzichten: Zeig‘ mir deine Freunde und ich sag dir wer du bist bekommt an dieser Stelle eine völlig neue Dimension. Meine Personalausweisidentität sagt gar weniger über mich aus, als dass was ich äußere, was ich mag und mit wem ich meine Nachrichten teile.

Realität ist der Sumpf des schwarmintelligenten Gedächtnis bereits – die Frage nach dem Umgang mit der neuen Situation jedoch umstritten und diffizil. Die Angst davor, dass die eigene Haussfassade, Teil des kulturellen Erbes einer Stadt, Geheimnisse preisgibt oder angreifbar macht ist jedoch absolut paranoid.

Integrität fordern und fördern

Teil dieser Realität ist nun auch, dass das Produzieren von Leichen im Keller wesentlich kompliziertert, das Verstecken dieser Leichen nun denn so gut wie unmöglich geworden ist. Auch wenn der Fall Guttenberg abgedroschen ist, so zeigt er doch exemplarisch, wie wenig elitäre Teile der Bevölkerung die Konsequenz des Internets wahrzunehmen fähig waren und vermutlich noch sind. Doch muss das wesentlich als Chance begriffen werden, einen wirklich transparenten Staat zu schaffen. Dass dies auch die Transparenz der Akteure bedeutet ist ein Schritt, den viele noch nicht geistig gegangen sind. Und für die politischen Akteure heißt dies, ihr Handeln und die möglichen Konsequenzen radikaler zu Ende zu denken. Doch wer im öffentlichen Raum politisch agieren will, darf nicht anonym sein, darf nicht Teile seiner Identität löschen oder löschen lassen, sondern muss vielmehr mit dem Getanen leben lernen. Anonymität und politische Verantwortung schließen einander aus. Vergebung ist hierbei wohl das entscheidene. Vergebung gegenüber anderen, aber vor allem sich selbst. Und so ist der persönliche Anspruch der Post-Privacy auch eine Art Selbstkontrolle.

Privatheit ist ein Schutz – vor mir selbst und der Öffentlichkeit. Vor Anfeindung, Peinlichkeiten, vor Bloßstellung und der Reflektion mit mir selbst. Was ich nicht laut aussprechen muss, ist nicht real, ist nicht echt, ist mir nicht zu eigen. Was ich nicht ausspreche, sprechen auch andere nicht aus, sprechen andere nicht an, können andere nicht gegen mich verwenden. Solange wir in einer Welt leben, wo dies notwendig zu sein scheint, ist es umso wichtiger die Utopie einer Welt zu formulieren, in der Privatheit nicht als Schutz vor der Willkür anderer existiert. Ansonsten bleibt nur die Hoffnung auf Ignoranz der anderen und der Mut im Zweifel mit der Inkohärenz der eigenen Person zu leben.

Als jemand, der von jeher sehr offen mit seinem Leben, seiner Person und seinen Fehlern umgegangen ist und umgehen konnte, fallen mir solche Aussagen leicht, denn ja, ich akzeptiere mein früheres Ich, meine Identität 2.0 – im vollem Umfang. Leicht ist dieser Schritt nicht – verlangt er doch nicht weniger als mit sich selbst ins Reine zu kommen, sich mit allen Facetten lieben zu lernen. Doch in den Zeiten der totalen Vernetzung sind wir zunehmend dazu gezwungen uns dieser Realität – nämlich der Ganzheit unserer Persönlichkeit – zu stellen. Hat lange genug gedauert.